"Schreien hilft viel in brenzligen Situationen"
Intensive Spielszenen beim Zivilcouragetraining für RNZ-Leser - Kriminalhauptkommissar Bubenitschek und Theaterpädagogin Ferdinand gaben wertvolle Tipps

RNZ-Redakteur Stefan Hagen spielt einen "S-Bahn-Rüpel", der andere Fahrgäste beleidigt. Die bleiben erst einmal ruhig, wenig später droht die Situation zu eskalieren. Foto: Kreutzer
Von Alexander Albrecht
Heidelberg/Rhein-Neckar. Der Kuppelsaal im Verlagsgebäude der Rhein-Neckar-Zeitung in der Heidelberger Neugasse ist ein Ort lebhafter Diskussionen - besonders dann, wenn die Redaktion Gäste zum Interview bittet und ihnen bohrende Fragen stellt. Mitunter geht es dabei emotional zu, laut wird es jedoch nie. Bis zu jenem Abend vor wenigen Tagen, als beinahe furchteinflößende Schreie aus dem Konferenzraum dringen. Ohrenbetäubende "Jaaaas" und "Neiiiins". 14 Frauen und vier Männer proben drei Stunden lang den Ernstfall. Sie haben bei einer RNZ-Aktion Plätze für ein exklusives Zivilcourage-Training gewonnen.
"Schreien hilft viel in brenzligen Situationen", sagt Stefanie Ferdinand, die gemeinsam mit Günther Bubenitschek den Kurs leitet. "Machen Sie sich der Kraft und Macht ihrer Stimme bewusst. Werden Sie richtig laut", motiviert die Erziehungswissenschaftlerin und Theaterpädagogin die Teilnehmer dazu, sich verbal gegen einen Angriff zur Wehr zu setzen. "Nein heißt Nein!" Vom Einsatz von Pfefferspray rät sie eher ab. Und das ist nur einer von vielen Tipps, den Ferdinand und der Kriminalhauptkommissar Bubenitschek vom Verein Kommunale Kriminalprävention Rhein-Neckar der Gruppe mit auf den Weg gibt.
Die beiden Experten spielen sich immer wieder gegenseitig die Bälle zu und schaffen es mit szenischen Beispielen, der Wirklichkeit recht nahe zu kommen. So verwandelt sich der Kuppelsaal kurzerhand in den belebten Heidelberger Bismarckplatz. RNZ-Redakteur Stefan Hagen mimt einen Zeugen, der beobachtet, wie ein Mädchen von einem Mann massiv belästigt wird. Die anderen Passanten haben davon offensichtlich nichts mitbekommen und unterhalten sich. Bubenitschek weiß: "Je mehr Menschen irgendwo sind, desto größer ist das Verantwortungsdefizit." Hagen beherzigt eine der Grundregeln, wendet sich nicht ab, spielt aber auch nicht den Helden. Er ruft nach Verstärkung und sorgt dafür, dass eine Frau die Polizei verständigt.
Einer direkten Ansprache könne sich kein Umstehender entziehen, sagt Bubenitschek. Und abgesehen davon ist jeder verpflichtet, Hilfe zu leisten. Vor allem die Männer in der Trainingsgruppe sind es, die sich ein Herz fassen, nach vorne treten und Hagen zur Seite stehen. Stefanie Ferdinand empfiehlt, auch bei einer starken Gemeinschaft auf räumlicher Distanz zum Täter zu bleiben, Blickkontakt zum Opfer zu halten und beruhigend auf es einzuwirken. Manchmal reiche eine kleine Geste, um den Angreifer einzuschüchtern. Niemand erwarte, dass jemand seine Gesundheit riskiere.
Doch es gibt auch andere Passanten, die gerne helfen wollen, denen aber vor lauter Aufregung das Herz aus der Brust zu springen droht. Die am ganzen Leib zittern und kaum sprechen können. "Halten Sie einen Moment inne", empfiehlt Ferdinand, "und atmen Sie einmal tief ein und wieder aus, das hilft".
Was viele nicht wissen: Beim (gebührenfreien) Notruf per Handy geht die 112 immer. Allerdings, so Bubenitschek, könne man in eine kurze Warteschleife geraten. Die 112 habe jedoch im Vergleich zur 110 den Vorteil, dass die Einsatzstelle ohne Netz erreicht werden kann. So oder so: Niemand werde abgewimmelt, sagt Bubenitschek. "Und bloß nicht auflegen!"
Die Mitarbeiter in den Notrufzentralen der Polizei seien geschult, gäben den Anrufern Stabilität und erklärten, was in der Situation zu tun ist - gerade, wenn der Täter offenbar stärker und zu jeder Art von Gewalt bereit ist. Wichtig ist, den Beamten die Lage so umfassend wie möglich und doch so kurz wie nötig zu schildern. Vor allem kommt es auf die "W-Fragen" an: Wer?", "Was?", "Wo?", "Wann?".
Szenenwechsel: Ferdinand, Bubenitschek und die Teilnehmer schieben Stühle so zusammen, dass die Kulisse eines S-Bahn-Abteils entsteht. Gerade in diesen Zügen kommt es immer wieder zu Pöbeleien oder Gewaltattacken. Stefan Hagen, der die Veranstaltung mit organisiert hat, wechselt die Rolle und verzieht sein Gesicht zu einer finsteren Miene. Aus dem tapferen Helfer wird der böse Junge. Und auch diesen Job macht der RNZ-Redakteur überzeugend. Mit dem Handy am Ohr hält er Kontakt zu seinem Kumpel "Charly", der an der nächsten Haltestelle zusteigen soll.
Hintergrund
Sechs Regeln für den Ernstfall:
1. Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.
2. Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf.
3. Ich beobachte genau und präge mir Täter-Merkmale ein.
4. Ich organisiere Hilfe unter
Sechs Regeln für den Ernstfall:
1. Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen.
2. Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf.
3. Ich beobachte genau und präge mir Täter-Merkmale ein.
4. Ich organisiere Hilfe unter der Notruf-Nummer 110.
5. Ich kümmere mich um Opfer.
6. Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung. alb
Breitbeinig setzt sich Hagen zu zwei Frauen und einem Mann. Er droht und provoziert. Die Fahrgäste wirken im ersten Augenblick überfordert. Und es gelingt ihnen nicht, sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. Es kommt zu einem Wortwechsel, der fast in Handgreiflichkeiten ausartet. Ein weiterer Teilnehmer gesellt sich dazu und spricht den Bösewicht an. Per Du. Ein Fehler, wie die Gruppe später von Bubenitschek erfährt. Das Duzen könne bei anderen Passanten den Eindruck erwecken, dass es sich hier um einen rein privaten Streit handelt. "Und der Helfer verliert an Autorität", ergänzt Stefanie Ferdinand.
Nach der Szene haben die Teilnehmer Redebedarf. "Ich habe mich unwohl gefühlt", gibt eine Frau zu. Eine andere sagt, sie wäre gerne aufgestanden und gegangen, doch sei es schwierig gewesen, über die Beine des aggressiven Mitfahrers zu steigen. "Ist es das wert?", fragt Bubenitschek und zieht ein Ansprechen des Flegels in Zweifel.
Besser wäre es aus seiner Sicht gewesen, die Polizei, den Fahrer oder weiteres Zugpersonal zu alarmieren, gegebenenfalls auch die "Notbremse" zu ziehen. Die Stimmung im Kuppelsaal ist nachdenklich. Einige in der Gruppe müssen das "Erlebte" und Gelernte erst einmal sacken lassen.
Dass alle bereits viel Input aufgesogen haben, zeigt sich bei der abschließenden Übung. Bubenitschek verlässt den Raum, und Ferdinand bittet die Teilnehmer darum, sich das Erscheinungsbild des Kommissars in Erinnerung zu rufen. Beachtlich: Die Gruppe hat alle wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale parat, Haar- und Schuhfarbe, die Kleidung oder Gesichtszüge. "Ich bin stolz auf Sie, sie sind tolle Zeugen", lobt Ferdinand die Teilnehmer. Wohl wissend, dass in der "Praxis" manchmal nur wenige Sekunden dafür bleiben, sich die Details einzuprägen.
Die Gäste gehen jedenfalls zufrieden nach Hause. "Ich habe schon einen Selbstbehauptungskurs absolviert. Das Zivilcouragetraining macht mich noch sicherer, wenn es mal ernst wird", sagt Marianne Jahnes. "Viel mitgenommen" und Selbstbewusstsein gewonnen hat auch Reinhild Beermann. Als Prozessbegleiterin von Opfern schwerer Straftaten weiß sie um den Wert der Zivilcourage. "Ich habe einiges gelernt" meint Sonja Hill-Klass. "Und hoffe, dass ich auch bei einer tatsächlichen Situation das Richtige tue."



