Unterwegs mit Streetworkern

Warum Obdachlose nicht in der Heidelberger Innenstadt schlafen

Die Straße ist ihr Wohnzimmer: Nina Marx und Moritz Römmer bieten Obdachlosen Unterstützung an. Sie stehen ihnen im Karl-Klotz-Haus zur Seite und sprechen sie in der Stadt an.

04.01.2023 UPDATE: 04.01.2023 06:00 Uhr 4 Minuten, 23 Sekunden
Die Streetworker Nina Marx und Moritz Römmer (v.l.) auf ihrem Weg durch die Stadt. An diesem Tag treffen sie einen Mann, der die Obdachlosentagesstätte im Karl-Klotz-Haus regelmäßig aufsucht. Spontan schließt er sich ihnen an. Foto: mio

Von Marion Gottlob

Heidelberg. Wer den Blick in der Hauptstraße nicht auf die Schaufenster, sondern auf das Pflaster davor, auf Hauseingänge und Treppenstufen richtet, sieht dort bisweilen Menschen mit ihrem gesamten Hab und Gut sitzen. Das wissen die Sozialarbeiter und Streetworker Nina Marx und Moritz Römmer vom SKM, dem katholischen Verein für soziale Dienste Heidelberg. Mit ihren Kollegen sind sie in der Tagesstätte des Karl-Klotz-Hauses präsent, aber auch regelmäßig in den Straßen von Heidelberg unterwegs.

Marx und Römmer kennen viele Obdachlose zumindest vom Sehen, von einigen wissen sie den Vornamen und oft den Stammplatz während des Tages. "Wenn wir durch die Straßen gehen, dann besuchen wir sie quasi in ihrem Wohnzimmer", erklärt Marx. Es gehört zu ihren Aufgaben, auch unbekannte Menschen auf Verdacht anzusprechen und ihre Hilfe anzubieten: An diesem Tag fällt dem Streetworker-Duo ein Mann auf, der auf einer kleinen Mauer am Darmstädter Hof Centrum sitzt, umgeben von Plastiktüten. "Sind Sie obdachlos?" Der Mann verneint. "Es kann passieren, dass wir uns täuschen", sagt Marx.

Nicht weit vom Bismarckplatz entfernt treffen die Streetworker auf zwei Männer, die bei Bier und Schnaps plaudern. Auch diese Männer winken ab: "Nein, wir sind nicht obdachlos." Römmer und Marx lassen sich nicht abwimmeln. Einer der Männer erzählt, dass er den Führerschein machen möchte: "Dann muss das mit dem Alkohol weniger werden."

Der zweite Mann sagt leise: "Ich komm mit dem Geld nicht mehr klar. Die Lebensmittel, alles ist so teuer geworden." Römmer nickt: "Komm im Karl-Klotz-Haus vorbei." Das Angebot des Hauses umfasst neben Beratung auch die Möglichkeit, günstig zu Mittag zu essen. Menschen ohne festen Wohnsitz können dort auch duschen, Wäsche waschen lassen und "neue" Kleidung aus der Kleiderkammer bekommen.

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In Heidelberg gibt es fast 100 Obdachlose, dazu schätzungsweise 35 Menschen, die keine Meldeadresse haben. Römmer erklärt: "Menschen ohne Meldeadresse übernachten mal bei Verwandten, mal bei Freunden. Aber sie werden auf Dauer abhängig von anderen Menschen. Frauen sind besonders gefährdet, wenn sie bei Männern übernachten, die dann "Gefälligkeiten" und "Gegenleistungen" einfordern". Speziell für obdachlose Frauen gibt es den "Frauenraum", in dem nur Frauen zugelassen sind.

Wo suchen Obdachlose Schutz, wenn die Temperaturen unter null Grad Celsius sinken? Von November bis Mitte April haben die Notquartiere der Stadt geöffnet. Hier können Heidelberger Obdachlose die Nacht von 18 bis 8 Uhr verbringen. Wer jedoch nicht aus Heidelberg stammt, hat keinen Anspruch auf diesen Schutz.

Nicht-Heidelberger können im Quartal sieben Tage im Wichernheim übernachten, danach müssen sie in einer anderen Stadt nach Hilfe suchen. Im Karl-Klotz-Haus verzeichnet man bei Kälte vermehrt Nachfragen nach Isomatten und Schlafsäcken, denn einige Heidelberger Obdachlose wollen auch dann im Freien die Nacht verbringen.

Wo übernachten Obdachlose im Freien? "Ihr Geheimnis", erklärt Römmer. "Die meisten verraten es nicht einmal uns. Das können überdachte Plätze, Gartenlauben oder Hütten im Wald sein. Wir wissen es nicht."

Aber eines wissen die Sozialarbeiter doch: Die Betroffenen möchten die Nächte nicht in der Innenstadt verbringen. "Zu gefährlich. Sie befürchten, dass sie im Schlaf ausgeraubt werden und das Wenige verlieren, das ihnen bleibt. Das können ein kleiner Spritkocher, eine Taschenlampe oder Kleidung sein. Der Verteilungskampf unter den Ärmsten ist extrem hart", erklärt Römmer.

Thomas (Name geändert) lebt auf der Straße. Der 53-Jährige hat mit der Kälte kein Problem: "Ich friere nicht." Der frühere Busfahrer war tagelang in Deutschland und im Ausland im Einsatz und übernachtete manchmal jede Nacht in einem anderen Hotel. "Ich schlafe nachts nicht", berichtet er. So kann es passieren, dass er viele Stunden durch die Straßen läuft. "Ich möchte so leben", sagt er.

Aber leicht ist es nicht. Gerade gegen Ende des Monats kann es passieren, dass die Sozialarbeiter wegen Geldnöten angesprochen werden, weil das Hartz-IV-Geld aufgebraucht ist. Marx und Römmer sind sich einig: "Als Sozialarbeiter muss man Nein sagen können."

Auch während des RNZ-Besuchs bittet ein Mann dringend um Geld. Römmer wehrt ab: "Wir haben ihm einen Vorschuss und einen Gutschein aus dem Spendentopf gegeben. Mehr geht nicht." Marx nickt: "Wir brauchen die Gutscheine für Notfälle, wenn zum Beispiel jemand krank wird und Medikamente bezahlen muss. Denn eines der größten Probleme ist, dass viele obdachlose EU-Bürger nicht krankenversichert sind. Das ist wirklich schlimm."

Die Obdachlosen stammen aus dem In- und Ausland. "Wir verständigen uns mit Händen und Füßen oder dem Handy-Übersetzer", erzählt Römmer. Da sind zum Beispiel Menschen aus Rumänien oder Polen. Einige haben für Bauunternehmen gearbeitet und wurden um den Lohn geprellt, wie zu hören ist.

Die Betroffenen wagen es nicht, in ihre Heimat zurückzukehren. "Ihre Familien erwarten das Geld aus Deutschland. Wer ohne Geld nach Hause zurückkehrt, verliert das Gesicht,", so Marx. So bleiben die Betroffenen trotz Not in Heidelberg.

Auf ihrer Tour beginnen die Streetworker nun ein Gespräch mit einem Mann, der seinen Hund an die Tür eines leerstehenden Geschäfts gebunden hat. Der Mann trägt eine warme Jacke, aber seine Jogginghose hat Löcher. Neben ihm liegen Isomatte, Rucksack und eine Plastiktüte. "Bist du obdachlos?", fragt Römmer auch ihn.

Ein Paar erkundigt sich: "Dürfen wir Geld geben?" Sie legen zwei Euro auf den Boden. Der obdachlose Mann faltet die Hände: "Wer mir hilft, für den bete ich." Römmer erklärt ihm den Weg in das neue Karl-Klotz-Haus im Gleisdreieck.

Wird der Mann zur Tagesstätte kommen und Hilfe annehmen? "Wir wissen es nicht. Wer in einem Büro arbeitet, kann die Aufgaben X, Y und Z abarbeiten und Erfolge verbuchen. Wir müssen mit ,Enttäuschungen’ leben." Das hat auch damit zu tun, dass es für Betroffene fast unmöglich ist, auf dem ersten Wohnungsmarkt in Heidelberg eine erschwingliche Wohnung zu finden. Marx weiß von einer Frau, die mit einer guten Rente auf der Straße lebt und eine Wohnung sucht. "Es ist ein strukturelles Problem, dass es in Heidelberg zu wenig Wohnraum gibt. Und welcher Vermieter nimmt eine Person ohne festen Wohnsitz?"

Aber manchmal erleben die Sozialarbeiter doch "große" Erfolge: Vor einiger Zeit entschied sich ein Obdachloser, sein Leben grundsätzlich zu ändern. Er hatte Probleme mit Drogen und war in gewalttätige Konflikte verwickelt. Doch seine Schwester nahm ihn auf, er fand Arbeit und traf seine Kinder wieder. Vor Kurzem kam er in das Karl-Klotz-Haus, um sich zu bedanken.

"So eine Entwicklung grenzt an ein Wunder. Man kann das von niemandem erwarten", sagt Römmer. Marx nickt: "Wir sprechen die Menschen an und hoffen, dass unsere Angebote angenommen werden. Aber wir verurteilen niemanden, wenn es nicht klappt. Vielleicht an einem anderen Tag. Wir versuchen es jedenfalls immer wieder."

Info: Das Karl-Klotz-Haus des SKM im Gleisdreieck 1 in der Weststadt nahe den Bahnschienen ist montags bis freitags jeweils von 9 bis 15 Uhr und sonntags von 13 bis 15 Uhr geöffnet. Mehr Information unter Telefon 06221 / 163659. Speziell für Frauen gibt es Räume im Margot-Becke-Ring 17/2. Öffnungszeiten: montags, mittwochs und freitags von 9 bis 12 Uhr, dienstags und donnerstags von 13 bis 16 Uhr. Mehr Informationen unter Telefon 06221 / 9853685.

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