Heidelberg

Hunderte gedachten auf dem Synagogenplatz der Reichspogromnacht 1938

Aufruf gegen einen neuen Antisemitismus

10.11.2019 UPDATE: 11.11.2019 06:00 Uhr 2 Minuten, 38 Sekunden

Mit einer Gedenkstunde auf dem Synagogenplatz erinnerten Bürger an die Pogromnacht 1938 und an die Opfer des Nationalsozialismus. Rabbiner Janusz Pawelczyk-Kissin mahnte einen entschlossenen Kampf gegen den neu erstarkten Antisemitismus an. Foto: Rothe

Von Marie Böhm

Heidelberg. Jeden Tag kommen Hunderte Menschen am alten Marstall vorbei. Kaum jemand denkt dabei wohl an die Wut und Zerstörung, die Mitbürger an dem kaum 20 Meter entfernten alten Synagogenplatz erlebten. Heute rufen nur noch Umrisse und ein Gedenkstein Erinnerungen an die Synagoge wach, die hier bis 1938 stand. In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden in ganz Deutschland Synagogen, Geschäfte und Wohnhäuser jüdischer Mitbürger zerstört, die Bewohner niedergeschlagen, zusammengepfercht und in Konzentrationslager verschleppt. Kaum jemand von ihnen konnte dem Hass entgehen, viele starben später unter grauenvollen Umständen.

Die furchtbaren Geschehnisse dieser Nacht sind bis heute eine der grundlegenden Erinnerungen an die Judenverfolgung des Naziregimes. Darum gedenken jedes Jahr Bürger der Stadt zusammen mit der jüdischen Gemeinde und der Stadtverwaltung der Opfer der Reichspogromnacht. Mehr als 300 Bürger fanden sich am Samstag aber nicht nur zur Erinnerung, sondern auch zum Aufruf gegen neuen Antisemitismus zusammen: "Eine Gedenkfeier soll vor allem eine Gedenkfeier bleiben. Das sind wir den Opfern von damals schuldig. Und doch sind wir ihnen auch schuldig, auf Entwicklungen in der Gegenwart hinzuweisen, die ähnliche Konsequenzen haben könnten." Damit bringt der Rabbiner Janusz Pawelczyk-Kissin von der Jüdischen Gemeinde Heidelbergs einen Punkt zur Sprache, der viele beschäftigt: eine neu aufkommende Welle von Antisemitismus.

Erst letzten Monat gab es in Halle einen rechtsextremistischen Anschlag auf eine jüdische Gemeinde. Ausgerechnet an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, fand der versuchte Massenmord statt. Zwei Menschen wurden getötet, zwei weitere schwer verletzt. Diese Tat erschütterte ganz Deutschland. Viele hatten nicht gedacht, dass dieser extreme Antisemitismus je wieder in Deutschland Fuß fassen könnte.

Dabei sei Hass gegen jüdische Mitbürger weiter verbreitet als man wahrhaben wolle, sagte Hieronymus Eichengrün. Der 22-Jährige ist einer der Studenten der Hochschule für Jüdische Studien, die am Samstag die Namen der fast 300 aus Heidelberg deportierten Bürger verlasen: "Das ist kein neues Problem. Es gibt auch hier in Heidelberg immer wieder kleinere Vorfälle und Hassreden. Man kann sich als Jude nicht klar zu erkennen geben, ohne Beleidigungen befürchten zu müssen. Das ist mir selbst auch schon passiert." Die beste Art, die Lage zu verbessern, ist seiner Meinung nach: "Zivilcourage zeigen! Wenn man selbst antisemitische Äußerungen hört, muss man sich dagegenstellen. Egal, ob das jetzt im Geschäft, auf der Straße oder in der eigenen Familie passiert."

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Zu einer klaren Position gegen Antisemitismus rief auch der Erste Bürgermeister Jürgen Odszuck auf: "Der kulturelle Austausch ist ein wichtiger Teil Heidelbergs. In unserer Stadt leben Menschen aus Hunderten Kulturen und Religionen. Deswegen stellen wir uns entschieden gegen die Ausgrenzung einer dieser Gruppen, der jüdischen Mitbürger. Gerade vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte werden wir entschieden gegen den Antisemitismus vorgehen. Nie wieder soll es zu so einem Terror kommen!" Das findet auch Regine Buyer. Die 67-Jährige kommt fast jedes Jahr zur Gedenkfeier: "Ob Christen, Juden, Muslime oder Andersgläubige: Wir müssen zusammenhalten gegen den Hass, gegen einzelne Gruppen."

Ein guter Anfang im Kampf gegen den Judenhass sei die richtige Information, so Eichengrün: "Man muss hinterfragen, was vor allem von extremen Parteien verbreitet wird. Das ist geistige Brandstiftung, diese Verbreitung von Hasspropaganda und vor allem Fremdenfeindlichkeit. Man kann dem schon entgegenwirken, indem man demokratische Parteien wählt, anstatt der national-sozialistisch ausgerichteten."

Auch die Darstellung von Juden und des Staates Israel müsse sich ändern, so Pawelczyk-Kissin: "Einer der größten Auslöser des momentanen Antisemitismus ist vermutlich der Hass gegen den israelischen Staat, den viele nicht vom Judentum trennen. Israel wird fast nur negativ dargestellt. Das führt zu einem falschen Bild der Lage. Wir wissen, dass Antisemitismus nicht dasselbe ist wie Antiisraelismus, aber wissen das Angreifer wie in Halle auch?" Ein Problem sei auch die Darstellung jüdischer Bürger in den Medien. "Das fängt schon mit Geschichtsbüchern an. Juden werden oft als etwas Außenstehendes dargestellt statt als Teil des Volkes. Wir bräuchten nur eine neutrale öffentliche Darstellung, was zu einer neutraleren Wahrnehmung führt." Deswegen sei Wachsamkeit im Umgang mit Medien wichtig: "Man sollte nicht alles so hinnehmen, wie es serviert wird. Ob bei reißerischen Internetartikeln oder Gerüchten: Man muss sich zuerst zum Hintergrund informieren, bevor man sich eine falsche Meinung bildet."

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