Prozess in Heidelberg

Täter muss nach Messer-Angriff auf Betreuer in Psychiatrie

Der Beschuldigte leidet an paranoider Schizophrenie. Noch ist er gefährlich für die Allgemeinheit. Die Behandlung sorgt für Fortschritte.

11.05.2023 UPDATE: 15.05.2023 19:31 Uhr 3 Minuten, 58 Sekunden

Archiv-Foto: Tim Kegel

Von Jonas Labrenz

Heidelberg. Der junge Mann, der Anfang Dezember seinem ehemaligen Betreuer mit einem Messer in die Brust gestochen hat, ist nun dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht. Die Schwurgerichtskammer des Heidelberger Landgerichts hat die Tat als versuchten Totschlag gewertet. "Dafür wird man gewöhnlich hart bestraft, aber nur, wenn man den Täter persönlich dafür verantwortlich machen kann. Das war bei Ihnen nicht der Fall", sagte der Vorsitzende Richter Jochen Herkle in der Urteilsbegründung am Montag. Der Beschuldigte war aufgrund einer paranoiden Schizophrenie nicht schuldfähig.

Der Psychiater Hartmut Pleines hatte vorher als Sachverständiger ausgesagt und das Gericht über die Situation des Beschuldigten aufgeklärt. Im Jahr 2017 habe er das erste Mal diffuse Symptome gezeigt, die erst in der Rückschau als Vorboten einer Schizophrenie gedeutet werden könnten. Der engagierte junge Mann hatte sich zurückgezogen, Ausbildungen abgebrochen und Aktivitäten eingestellt. 2022 begann dann die "psychotische Symptomatik": Der Realitätsbezug des Beschuldigten war tiefgreifend gestört – und es wurde immer schlimmer. "Es war ein Wahnfeld, das immer größer wurde und mehr Lebensbereiche überwucherte", erklärt Pleines.

Der junge Mann hatte Halluzinationen, hörte kommentierende Stimmen. Er dachte, dass die Illuminaten hinter ihm her seien, es eine Teufelsreligion gäbe, die Kinder und Frauen tötet und deren Körperteile isst. Irgendwann war er überzeugt, dass auch sein ehemaliger Betreuer dazugehörte. Sogar seine Gedanken würden durch Telepathie beeinflusst, war sich der Beschuldigte sicher. "Er verlor seine letzten Rückzugsräume – und das machte es so gefährlich."

Die Prognose des Sachverständigen ist negativ: Der Beschuldigte habe noch keine volle Krankheitseinsicht, auch sei er als Cannabiskonsument – zuletzt rauchte er fünf Joints täglich – besonders gefährdet. Die Droge treibe Psychosen an und könne die Wirkung von Medikamenten beeinflussen. Außerdem führe der Konsum bei psychisch Kranken zu schwereren Straftaten. Trotzdem habe er in den Monaten bereits "beachtliche Fortschritte" gemacht. Konfrontiert mit seiner Tat habe der Beschuldigte eine "tiefe Erschütterung" erfahren. "Und ich bin mit solchen Begriffen zurückhaltend", so der Psychiater.

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Nachdem sowohl Staatsanwaltschaft als auch Nebenklage und Verteidigung die Unterbringung in der Psychiatrie beantragt hatten, folgte dem auch die Kammer. Richter Herkle ließ in seiner Urteilsbegründung nochmal die dramatische Situation in der Wohngemeinschaft Revue passieren und bilanzierte: "Angesichts dessen hat der Geschädigte sehr viel Glück gehabt, dass er keine lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hat." Dass das Messer keine Organe getroffen hat, sei am Ende wohl "dem Zufall geschuldet" gewesen. Zwar habe der junge Mann das alles in schuldunfähigem Zustand getan, "allerdings ist es so, dass sie gefährlich für andere sind, solange die Krankheit in unbehandeltem Zustand fortbesteht". Doch auch die Kammer sah seine großen Fortschritte: "Sie sind auf einem guten Weg", so Herkle. "Wir meinen aber, dass Sie diesen Weg noch weiter beschreiten müssen", erklärte er dem Beschuldigten.

Update: Montag, 15. Mai 2023, 19.31 Uhr


Mann lebt in Parallelwelt und hält Betreuer für Menschenfresser

Von Jonas Labrenz

Heidelberg. Illuminati, Menschenfresser, eine große Verschwörung: Der junge Mann, der am Mittwoch im großen Saal des Heidelberger Landgerichts Platz nimmt, hat bis vor wenigen Monaten in einer grausamen Parallelwelt gelebt.

Anfang Dezember vergangenen Jahres hat er seinem Betreuer mit einem Messer in den Oberkörper gestochen, weil er ihn für einen Mörder und Kannibalen hielt. Um ihn zu töten, sagt die Staatsanwaltschaft, und möchte den 24-Jährigen in der Psychiatrie unterbringen lassen.

Der Beschuldigte hingegen beteuert, er habe dem Betreuer nur Angst machen und ihm zeigen wollen, dass er Bescheid wisse.

Die Tat geschieht in einer Wohngemeinschaft, die von der Jugendagentur betreut wird. Es steht ein Umzug an und der Betreuer ist da, um das Zimmer abzunehmen und kleinere Reparaturen mit den jungen Erwachsenen vorzunehmen. Als er gerade die kaputte Tür des Beschuldigten in den Flur trägt, spürt er einen Schlag gegen den Oberkörper. Tatsächlich hat ihn eine 21 Zentimeter lange Messerklinge getroffen – die lebenswichtige Organe verfehlt.

Der Betreuer fällt aufs Bett, wird weiter attackiert. "Ich habe wie verrückt nach Hilfe geschrien", erinnert er sich später. Zwei Mitbewohner, die in einem anderen Raum noch ein Bett auf Vordermann bringen, kommen ins Zimmer, einer zieht den Beschuldigten weg, dann sehen beide die Klinge. "Ich stand da im Schock", erzählt einer von ihnen bei Gericht. Der andere flüchtet mit einem Freund, der zum Zeitpunkt der Tat noch im Wohnzimmer ist, auf den Balkon.

Der Beschuldigte setzt ihnen hinterher, die beiden halten die Glastür aber von außen zu. Mit Messerhieben schlägt er darauf ein, geht dann in die Küche und klettert durchs Fenster, das ebenfalls auf den Balkon führt. "Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht sterben möchte und er uns gehen lassen soll", sagt der, der den Beschuldigten von dem Betreuer weggezogen hatte.

Und der Angreifer lässt sie tatsächlich gehen: Er wolle nur dem Betreuer wehtun, soll er gesagt haben. Der hat sich mittlerweile aufgerappelt und ist auch aus der Wohnung geflohen, so dass nun alle draußen sind und die Polizei den Mann schließlich festnehmen kann.

Keiner der jungen Männer hätte vor der Tat damit gerechnet, dass ihr Mitbewohner zu solch einer Tat fähig wäre. Alle beschreiben ihn als ruhig und freundlich. Er habe sich aber in den letzten Monaten verändert, sei kaum mehr aus seinem Zimmer gekommen, habe Sport, seine Bemühungen um eine Ausbildung und die Hausarbeit vernachlässigt.

Manche haben auch die Symbole und die Schrift an seiner Zimmerwand bemerkt. Nur ein Satz kann vor Gericht entziffert werden: "Lieber Gott, ich möchte sterben."

Der junge Mann leidet – davon geht die Staatsanwaltschaft aus – an einer paranoiden Schizophrenie. "Ich dachte, er wäre ein Menschenfresser", sagt er über seinen Betreuer. Dass der Frauen und Kinder töte und deren Körperteile esse.

Er habe Stimmen gehört, die ihn vor solchen Menschen gewarnt und ihm aufgetragen hätten, sich zu verteidigen. "Ich hatte Angst vor den Illuminati, ich dachte, sie wollen mich töten", erzählt der junge Mann vor Gericht.

Eine Woche nach seiner Festnahme hat er einen Brief geschrieben, den der Vorsitzende Richter Jochen Herkle am Mittwoch vorliest. Es geht um Verschwörungen, in die sowohl Staatspräsidenten als auch die Polizei in Sinsheim verwickelt sind.

Heute schäme er sich dafür und für seine Taten. Bei allen Geschädigten entschuldigt er sich: "Ich war damals krank und bin es noch heute." Der Prozess wird am Montag fortgesetzt.

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