Medizingeschichte

Gebärende als Forschungsobjekte

In der Großherzoglichen Entbindungsanstalt brachten arme Frauen ihr Kind zur Welt - Nach ihrer Meinung wurden sie nicht gefragt

20.12.2020 UPDATE: 21.12.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 22 Sekunden
Im Westflügel des Marstall-Gevierts war zeitweise das „Gebärhaus“ untergebracht. Hier ein Plan der Stadt Heidelberg von 1830.

Von Manfred Bechtel

Heidelberg. Kinder kamen in häuslicher Umgebung zur Welt, Hebammen standen den Müttern zur Seite. So war es früher. Aber wohin konnten sich Schwangere wenden, wenn sie kein eigenes Zuhause hatten? Wo konnten meist ledige Dienstmägde oder Hausmädchen gebären? Im Hause ihrer Dienstherrschaft wurde es ihnen nicht selten verwehrt. Wenn sie nicht zu ihren eigenen Eltern zurückkonnten, drohte ihnen Obdachlosigkeit. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden mancherorts Gebärhäuser eingerichtet, in denen die Frauen unter medizinischer Aufsicht ihr Kind zur Welt bringen konnten. In Mannheim wurde 1766 durch Kurfürst Carl Theodor eine solche Anstalt gegründet, das "Accouchement". Die Zustände müssen allerdings beklagenswert gewesen sein. 1805 wurde die Einrichtung nach Heidelberg verlegt. Ihre Arbeit ist im Universitätsarchiv gut dokumentiert. Die Historikerin Eva Riedlsperger hat dort Unterlagen ausgewertet. Unter dem Titel "Die Heidelberger Großherzogliche Entbindungsanstalt 1827-1851. Eine Sozialgeschichte der institutionalisierten Geburt" hat sie für das soeben erschienene Geschichtsjahrbuch einen Beitrag verfasst.

Die meisten Frauen suchten in der Entbindungsanstalt Hilfe, weil ihnen keine andere Wahl blieb. 70 Prozent der Schwangeren stammten aus einem sozial niedrigeren Milieu, das verzeichnet eine Statistik aus München. "Diese Einrichtungen waren aber keineswegs karitativer Natur: Wenn sich eine Frau für eine Entbindung im Geburtshaus entschloss, wurde sie Teil eines Instituts, dessen primärer Zweck die Ausbildung von Hebammen und oft auch der von Studenten war", schreibt Eva Riedlsperger. Die Unterbringung in der Anstalt war kostenlos, wenn die Frauen entweder krank waren oder zu häuslichen Arbeiten herangezogen werden konnten. Diese Arbeit bestand unter anderem darin, Wolle und Hanf zu spinnen und zu verarbeiten.

Einen Eindruck von der Anzahl der Geburten vermittelt die Statistik der Jahre 1825/26. Sie verzeichnet 418 Neugeborene, 31 von ihnen waren bei der Geburt tot. Nicht gezählt wurden die, die kurze Zeit später starben. Von den Müttern starben zwei. 19 Geburten fanden "unter Beihülfe mechanischen Kunstverfahrens" statt. Dazu zählten beispielsweise die Wendung, die Perforation der Fruchtblase, die künstliche Frühgeburt, der Kaiserschnitt und die Zangengeburt. Mit Hilfe der Zange kam ein kleiner Junge lebend zur Welt, ein kleines Mädchen schaffte es dagegen nicht: Über 24 Stunden hatte die Mutter in den Wehen gelegen. Dann wandten die Ärzte die Zange an; die Nabelschnur war zweimal um den Hals des Kindes geschlungen. Ein Kaiserschnitt ist zwischen 1827 und 1848 nicht verzeichnet.

Geburten wurden oft von über zehn Studenten beobachtet, die auch selbst Hand anlegten, um sich "in der so nothwendige Kenntniß der stufenweisen Veränderungen des Muttermundes durch touchiren zu üben". Die üblichen Hausgeburten waren da privater. Immerhin sollte in der Entbindungsanstalt darauf geachtet werden, "dass jede unanständige und unnötige Entblösung" vermieden werde.

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"Insgesamt waren die Frauen kaum in der Lage, während ihres Aufenthalts in der Anstalt selbst über ihren Körper zu entscheiden", stellt Eva Riedlsperger fest. Die Ärzte waren zwar durchaus um das Leben von Mutter und Kind bemüht, aber wenn sie "der Meinung waren, dass ein Eingriff in den Geburtsverlauf vonnöten war, wurde die Schwangere nicht nach ihren Wünschen und ihrer Meinung gefragt". Sie betrachteten die Frauen als ihre Forschungs- und Lehrobjekte. Es wurde über die Frau geredet, nicht mit ihr.

Nach ihrer Entlassung konnten einige Mütter als Amme in reicheren Häusern unterkommen, mussten aber ihr Kind in Pflege geben. Frauen aus weit entfernten Orten konnten einen Zuschuss für die Heimreise erhalten, ihre Heimatgemeinde wurde von der Geburt in Kenntnis gesetzt. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass Säuglinge nicht getötet oder ausgesetzt würden.

Nach ihrem Umzug von Mannheim nach Heidelberg war die "Hebärztliche Anstalt" zunächst im ehemaligen Dominikanerkloster Ecke Hauptstraße/Brunnengasse untergebracht. Ab 1819 war die Entbindungsanstalt im Süd- beziehungsweise Westflügel des Marstallgevierts zu Hause. Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte der Umzug ins Bergheimer Klinikum.

Info: Der Aufsatz basiert auf einer Bachelor-Arbeit und ist abgedruckt in "Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 2021", Jg. 25, hg. vom Heidelberger Geschichtsverein.

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