Überraschung aus Heidelbergs Partnerstadt Montpellier
Sozialist Michaël Delafosse wurde Oberbürgermeister - Verrückter Corona-Wahlkampf in Heidelbergs französischer Partnerstadt.

Von Nadine Gruner
Montpellier/Heidelberg. Der Sozialist Michaël Delafosse sorgte für die große Überraschung am Wahlsonntag in Montpellier. Mit gerade einmal 43 Jahren und 47,22 Prozent der Wählerstimmen entthronte er Amtsinhaber Philippe Saurel (34,65 Prozent) und wies seinen Herausforderer Mohed Altrad (18,12 Prozent) in die Schranken. Ganz Frankreich blickte auf die quirlige Metropole des alten Languedoc, die mit sage und schreibe 14 angetretenen Kandidaten beim ersten Wahldurchgang Mitte März den Landesrekord hält. Zwei Tage später kam der Lockdown, sodass die am Folgesonntag angesetzte Stichwahl buchstäblich ins Wasser fiel.
Noch im Winter wurde die Grünen-Kandidatin Clothilde Ollier als sichere Gewinnerin gehandelt, deren Legitimation jedoch vom nationalen Vorstand aufgehoben wurde, nachdem sie mit Linkspopulisten angebandelt hatte. Bei Philippe Saurel (parteilos) war lange Zeit überhaupt nicht klar, ob er nach einer schweren Knie-Operation wieder antritt. Er reichte seine Kandidatur erst kurz vor Torschluss ein. Am 15. März und bei historisch niedriger Beteiligung unter 35 Prozent hatte letzterer noch einen leichten Stimmenvorsprung mit knapp 20 Prozent, dicht gefolgt von Delafosse.
Dann überrollte die Corona-Pandemie auch Frankreich und lange Zeit blieb offen, wann die Stichwahlen stattfinden würden. Es blieben nur vier Wochen Zeit für die Kampagnenarbeit und neuerliche Allianzen. Wieder schaute ganz Frankreich verwundert Richtung Süden, als der parteilose Industriemilliardär und Besitzer des hiesigen Rugbyclubs Altrad sich die Unterstützung der verschmähten Grünen-Kandidatin, des provokanten Komikers und Tierfreundes Rémi Gaillard und einer linken Liste zusicherte, wodurch er massiv an Glaubwürdigkeit einbüßte. Währenddessen fusionierte Delafosse mit der von Coralie Mantion angeführten Grünen-Liste. Die grüne Welle machte also auch nicht vor Montpellier Halt und katapultierte Delafosse mit großem Vorsprung ins Amt. Wieder war die Wahlbeteiligung verschwindend gering, nicht zuletzt aufgrund des zeitlich großen Abstands zum ersten Durchgang und der Ansteckungsangst in den Wahllokalen.
Der 43-jährige Delafosse ist kein Unbekannter in der Stadt. Als Teenager kam der gebürtige Pariser nach Montpellier und nahm hier auch sein Studium auf. Früh engagierte er sich in Studentengewerkschaften und fiel in den neunziger Jahren schon dem sozialistischen Übervater Georges Frêche ins Auge. Unter dem OB-Mandat von Hélène Mandroux fungierte Delafosse bereits als Kultur- und später Städtebaubürgermeister, bevor er 2014 von Saurel in die Opposition gedrängt wurde. Das Rathaus Montpelliers ist traditionell in sozialistischer Hand, wie auch das Département und die Region, während es Macrons Partei nie gelungen ist, vor Ort Wurzeln zu schlagen. Auch die Nationale Sammlungsbewegung von Marine Le Pen spielt in Montpellier keine Rolle, was in vielen kleineren Kommunen Südfrankreichs ganz anders aussieht. Auch die Metropolregion Montpellier als Verband von 31 Kommunen (450.000 Einwohner) wird unter der Führung von Delafosse stehen.
Keine 24 Stunden nach dem Sieg ging er ganz bodenständig wieder seinem Lehrerberuf nach und unterrichtete zwei Geschichtsstunden am Collège. Thema: die Welt nach dem Fall der Berliner Mauer. Für ihn sei die deutsch-französische Versöhnung ein Meisterwerk der Geschichte. Die Stadt Montpellier wolle sich nunmehr auch für die deutsch-französischen Festwochen in Okzitanien engagieren und zum Zugpferd dieser regionalen Veranstaltung avancieren. Erstmalig soll auch bei der Gedenkveranstaltung zum Waffenstillstand des 11. November 1918 ein deutscher Kranz niedergelegt werden. Auch die Équipe des Heidelberg-Hauses blickt zuversichtlich in die Zukunft, da der neue OB nicht müde wird, den Platz der Kultur im öffentlichen Raum zu betonen. Ein leises Aufatmen geht durch die deutsch-französische Welt.
Viele große Baustellen warten auf den neuen Stadtchef: das neue Fußballstadion, die Westumgehung, Begrünung der Place de la Comédie, Müllvermeidung, Sicherheit, Bio in den Schulkantinen. Zur konstituierenden Stadtratssitzung am vergangenen Samstag begab sich der neue OB, dessen Leuchtturmprojekt kostenlose Nahverkehrsmittel sind, mit dem Fahrrad ins Rathaus. Über so viel mobile Innovation darf man in Montpellier wirklich noch staunen.
Info: Seit 2017 ist Nadine Gruner Institutsleiterin des Heidelberg-Hauses in Montpellier. Schon seit insgesamt 15 Jahren arbeitet die gebürtige Sächsin in Heidelbergs Partnerstadt im Süden Frankreichs. Sie studierte zuvor europäische Medienkultur in Lyon und Weimar.




