Heidelberg

Seelsorger Thomas Grün führt Skype-Gespräche am Krankenbett

Der 62-Jährige kümmert sich am St. Josefskrankenhaus um Patienten. Angehörige könne er zwar nicht ersetzen, "aber ich kann da sein", sagt er.

05.03.2021 UPDATE: 07.03.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 42 Sekunden
Unterstützung, Begleitung und Trost: Seelsorger Thomas Grün ist am St. Josefskrankenhaus für die Patienten da. Foto: Philipp Rothe

Von Julia Lauer

Heidelberg. Er begleitet kranke Menschen – manchmal auch auf ihrem Weg in den Tod. Thomas Grün (62) ist katholischer Theologe und Seelsorger am St. Josefskrankenhaus in der Landhausstraße. Im RNZ-Gespräch erzählt er, wie er die Situation im Krankenhaus unter Corona-Bedingungen erlebt, wie er Nähe trotz Maskenpflicht herstellt und wie er Patienten und Angehörige begleitet.

Sie sind Seelsorger am St.-Josefskrankenhaus in der Weststadt. Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt, Herr Grün?

Beruflich hat sich sehr viel verändert. Was im Krankenhaus am deutlichsten sichtbar war und ist, sind die fehlenden Besucher. Zunächst waren sie gar nicht zugelassen, inzwischen gibt es gewisse Lockerungen. In schweren Situationen, zum Beispiel beim Sterben, können Patienten von einer Person Besuch bekommen. Aber diese Lockerungen lassen sich nicht mit der Zeit vor der Pandemie vergleichen. Im Krankenhaus haben wir etwa 95 Prozent weniger Besucher als zu anderen Zeiten. Für die Patienten ist das oft schwer.

Das bedeutet, dass viele Menschen allein sind, obwohl sie krank sind und Unterstützung bräuchten. Wie spenden Sie Trost?

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Ich versuche, kreative Möglichkeiten für Patienten und Angehörige zu schaffen. So haben wir beispielsweise auf Wunsch schon Skype-Gespräche vom Krankenbett aus organisiert oder kleine Videos von Patienten für ihre Angehörige gemacht. Oder ich habe die Angehörigen draußen getroffen, sie haben mir ein Gedicht mitgegeben, und ich habe es ihrem Verwandten am Klinikbett vorgelesen. Die Angehörigen kann ich nicht ersetzen, ich kann nur da sein. Im Vergleich zu Ärzten und Pflegenden habe ich dafür mehr Zeit. Der biblisch überlieferte Name Gottes "Jahwe" lässt sich übersetzen mit "Ich bin der, der da ist". Seelsorgende spenden Trost, wenn sie diesen Namen entsprechend treu bei den Menschen sind. Trost und Treue haben übrigens denselben Wortstamm.

Haben Sie am Josefskrankenhaus auch mit Covid-Patienten zu tun?

Ja, wir haben noch immer Covid-Patienten in Behandlung. Aber viel weniger als in der Adventszeit und um Weihnachten herum. Damals, als die Infektionszahlen so hoch waren und auch zahlreiche Mitarbeiter infiziert waren und zuhause bleiben mussten, mussten wir wie andere Krankenhäuser auch vieles herunterfahren. In dieser Zeit machten die Covid-Patienten den Großteil unserer Kranken aus.

Die Covid-Patienten sind abgeschottet von anderen Patienten. Wie nah können Sie ihnen kommen?

Sie sind zwar isoliert, aber neben den Ärzten, Pflegenden, Reinigungspersonal und Physiotherapeuten gehe auch ich zu ihnen ins Zimmer. Mit Schutzausrüstung natürlich, mit Kittel, Haarschutz, Brille, Maske und Visier und solchen Dingen.

Haben Sie keine Angst, sich anzustecken?

Inzwischen bin ich zweifach geimpft und lasse mich regelmäßig testen. Wirkliche Angst hatte ich tatsächlich nie. Vielleicht eher so was wie Respekt vor dem Virus.

Trost setzt auch Nähe voraus. Wie geht das in der Schutzmontur?

Das ist schwierig, denn Mimik und Gestik spielen eine große Rolle, und Gleiches gilt für Berührungen. Es ist wichtig, mal eine Hand zu halten oder jemanden in den Arm zu nehmen. Das geht so zurzeit nicht. Was ich aber immer mache, ist, die Maske mal für einen Moment abzunehmen – zumindest wenn die Patienten nicht an Covid erkrankt sind. Ich stelle mich vor und sage: "... und so sehe ich hinter der Maske aus". Für Patienten ist das sehr belastend, das Gesicht nicht zu sehen. Das gilt erst recht, wenn sie an Demenz erkrankt sind.

Sind denn auch Covid-Patienten, die Sie betreut haben, gestorben?

Ja. Am schlimmsten war es immer, wenn sich die Situation plötzlich verschlechtert hat, wenn sie überraschend gestorben sind und die Angehörigen in den Wochen davor nicht zu ihnen konnten. Dass Menschen isoliert sterben, ist bitter – egal, ob das nun Covid-Patienten oder andere Patienten sind, zu denen aufgrund der Maßnahmen keine Besucher dürfen. Es ist ein Dilemma, mit dem sich alle unwohl fühlen. Vor der Pandemie kam es natürlich auch mal vor, dass ein Mensch allein gestorben ist. Aber in dieser Häufigkeit ist das neu.

Was passiert, wenn sich Menschen nicht voneinander verabschieden können?

Das ist in der Regel sehr belastend. Kürzlich sprach ich am Telefon mit einer Frau, ihr Mann war bei uns in der Klinik gestorben. Sie sagte: Wir waren 60 Jahre lang verheiratet, ich hätte ihm so gerne noch gesagt, dass ich mir keinen besseren Mann hätte wünschen können. Sie hatte noch versucht, ihm das mitzuteilen, aber am Telefon verstand er sie schlecht – und weil es ein Covid-Patient war, konnte sie nicht zu ihm.

Was haben Sie ihr geraten?

Ich habe ihr vorgeschlagen, diese liebevollen Gedanken für ihren verstorbenen Mann aufzuschreiben und ihm quasi als Brief mit in den Sarg zu geben.

Manchmal braucht es das Totenbett auch, damit Dinge ausgesprochen werden, die einem sonst nicht über die Lippen kämen. Um sich zu versöhnen zum Beispiel. Oder nicht?

Ich habe zwei Situationen erlebt, in denen das ein wichtiges Thema war. Zwei Geschwister waren zerstritten, bei uns lag der Bruder. Er war relativ jung, Anfang 50, war aber nicht bei Bewusstsein und musste beatmet werden. Die Schwester wollte, dass ich ihm sage: Ich will nur, dass du gesund wirst, und ich verzichte auch auf das Haus. Das habe ich ihm ein paarmal gesagt. Er ist nicht mehr ins Leben zurückgekehrt, sondern gestorben. Dennoch war es für seine Schwester so richtig und wichtig.

Glauben Sie, er hat es gehört?

Nicht die einzelnen Worte, wohl aber die Botschaft. Das ist meine persönliche Überzeugung. Das Ohr ist schließlich das Sinnesorgan, das am längsten funktioniert.

In diesen Coronazeiten sind Sie offensichtlich verstärkt auch für die Angehörigen da?

Allein heute habe ich sieben Briefe an Angehörige geschrieben. Vorgestern rief mich eine Frau aus Oberschlesien an, sie war verzweifelt und weinte. Ihr Mann war bei uns gestorben, die Frau bat mich darum, ihn zu segnen. Das habe ich getan. Die kleine Osterkerze, die dabei brannte, habe ich zu seinen Sachen gegeben. Seine Frau kann sie mit ans Grab nehmen. Solche Symbole können helfen, den Schmerz zu lindern.

Erleben Sie eine stärkere Hinwendung zur Religion als sonst?

Ich nehme eine größere Offenheit für bestimmte Fragen wahr. Etwa für die, wo das alles hinführt. Das Wort Religion leitet sich ab von lateinisch religio, Rückbindung. Es hilft, wenn die Religion ein Geländer ist, an dem man sich festhalten kann, wenn im Treppenhaus des Lebens das Licht ausgeht. Natürlich lässt die Pandemie auch religiös gebundene Menschen manchmal fassungslos zurück, und sie verstehen Gott und die Welt nicht mehr. "Der da oben kann so ein Arschloch sein", hat mir vor Weihnachten ein Mann hingeschmettert. Es gibt krasse Lebenssituationen, die krasse Formulierungen hervorbringen. Ein Schrei der Seele, der einer offenen Wunde gleicht.

Ist Gott in den Gesprächen, die Sie führen, eigentlich immer ein Thema?

Nein! Das ist sogar eher die Ausnahme. Wenn Menschen Religion wichtig ist, sprechen sie dieses Thema an.

Schon seit rund einem Jahr gehört zu Ihrem Alltag, Menschen unter diesen Bedingungen beizustehen. Geht Ihnen das an die Substanz?

Das geht jedem so, der das aus der Nähe erlebt, nicht nur mir. Und hier im Krankenhaus regen wir uns alle auf, wenn manche Leute sagen: Das ist wie eine Grippe. Wir sehen ja, wohin Corona führt. Bisher komme ich körperlich und mental aber ganz gut zurecht. In unserer Kapelle brennt fast jeden Tag die große Osterkerze. Nicht wie vor der Pandemie im Gottesdienst, sondern wegen der brennenden Anliegen all der Menschen in diesem Haus. Da kann ich manches abladen und weiß es gut aufgehoben. Zudem: Ich wohne in Gaiberg und fahre jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit, das ermöglicht mir, einen Teil der Belastung auf der Strecke zu lassen.

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