Lebenslanger Bund, Kneipe und Mensur
Sind Studentenverbindungen mit ihrer Traditionspflege noch zeitgemäß? Ein Besuch bei der Heidelberger "Allemannia".

Von Arndt Krödel
Heidelberg. Einer der berühmtesten Heidelberger Studenten des letzten Jahrhunderts, der Schriftsteller Carl Zuckmayer, erzählt in seiner Autobiografie "Als wär's ein Stück von mir" ziemlich anschaulich, wie es bisweilen mitten in der Altstadt zu Handgreiflichkeiten mit Burschenschaftern kam: Die bunt bemützten Kommilitonen versuchten, ihn und seine Freunde "dann und wann nächtlicherweile zu überfallen und niederzuschlagen", doch Zuckmayer und seinesgleichen wussten sich zu wehren. Es war die politisch bewegte Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, und zwischen den eher links stehenden Studenten um Zuckmayer und den stramm rechts positionierten Burschenschaftern knisterte es gewaltig.
Scharmützel dieser Art sind heutzutage im studentischen Leben nicht mehr an der Tagesordnung, mal abgesehen von einigen Zusammenstößen zwischen korporierten Studenten und kleinen "Antifa"-Gruppen beim "Maiansingen" auf dem Marktplatz. Insgesamt herrscht eher eine "entdramatisierte Sicht" vor, wie ein Kenner der Szene, der Heidelberger Historiker Dr. Norbert Giovannini, meint: "Es regt sich eigentlich keiner mehr so richtig auf über Verbindungsstudenten." Dennoch: Die Vorstellung von wüst trinkenden jungen Männern, die antiquierten Ritualen mit der Fechtwaffe folgen und in ihrem politischen Denken mindestens auf der konservativen Seite stehen, ist nach wie vor schnell zur Hand.
Passt da nicht ein Vorfall trefflich ins Bild, der vor einigen Monaten bundesweit Schlagzeilen machte, als die "Deutsche Burschenschaft", der Dachverband von 120 Burschenschaften in Deutschland und Österreich, zu ihrem Jahrestreffen auf der Wartburg in Eisenach zusammenkam? Da befand der Antrag einer extrem rechten Bonner Mitgliedskorporation, der "Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks", es sei "besonders in Zeiten fortschreitender Überfremdung nicht hinnehmbar, dass Menschen, welche nicht vom deutschen Stamm sind, in die Deutsche Burschenschaft aufgenommen werden". Es ging dabei um einen BWL-Studenten mit chinesischen Wurzeln aus Mannheim, der Mitglied der dortigen Burschenschaft "Hansea" ist. Der Antrag mit dem verdächtig völkischen Vokabular machte Furore in den Medien, auch wenn er bereits vor Beginn des Korporiertentreffens wieder zurückgezogen wurde.
Hintergrund
Hintergrund Corps & Co.
In Heidelberg gibt es derzeit 34 Studentenverbindungen, sei es als Corps, Burschenschaften, christliche Verbindungen, Landsmannschaften und Turnerschaften. Geschichtlich reichen die Wurzeln studentischer Korporationen bis
Hintergrund Corps & Co.
In Heidelberg gibt es derzeit 34 Studentenverbindungen, sei es als Corps, Burschenschaften, christliche Verbindungen, Landsmannschaften und Turnerschaften. Geschichtlich reichen die Wurzeln studentischer Korporationen bis ins Mittelalter zurück. An den deutschsprachigen Universitäten entstanden Verbindungen im heutigen Sinn etwa ab 1800. Zunächst schlossen sich Studenten in den landsmannschaftlich geprägten Corps zusammen, zum Beispiel Borussia (Preußen) oder Suevia (Schwaben). Vor dem Hintergrund der Befreiungskriege gegen Napoleon und der Idee einer nationalen Einheit Deutschlands kam es später zur Bildung von Burschenschaften, die sich anders als die Corps als politische Organisationen verstanden und für demokratische Reformen sowie die deutsche Einigung eintraten. In diesem historischen Zusammenhang steht auch der Umgang mit (Hieb-)Waffen, den die sogenannten schlagenden Verbindungen in Heidelberg etwa ein Drittel aller Korporationen als Tradition bis heute beibehalten haben. 1817 wurde die "Allgemeine Deutsche Burschenschaft" gegründet.
Antisemitische Unruhen und die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand führten zum Verbot der Burschenschaften in den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Die erste demokratische Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche von 1848 hob dieses Verbot wieder auf. In der Folge entstanden weitere Formen von studentischen Korporationen. Vor allem die Corps entwickelten sich zu Organisationen des bürgerlichen und aristokratischen Establishments.
Tritt ein Student in eine Verbindung ein, ist er für drei Semester "Aktiver" und wohnt im Verbindungshaus. Nach Ablauf dieser Zeit wird er "Inaktiver" und sucht sich seine eigene Bude, um dann nach dem Examen Mitglied der "Altherrenschaft" zu werden.
Aber sind so viel Geschichtsvergessenheit und Rassismus auch typisch? Wie denken, wie leben Verbindungsstudenten heute eigentlich? Was bedeutet ihnen das Festhalten an Traditionen, die für die große Mehrheit ihrer Kommilitonen überhaupt keine Rolle spielen? In Heidelberg gibt es mehr als 30 Korporationen (siehe Hintergrund), von denen man vielleicht oft nur die Fassade der noblen Häuser kennt, in denen viele von ihnen residieren. Wir wollten uns ein eigenes Bild machen und begaben uns auf die Suche nach Gesprächspartnern in der Corps- und Burschenschaftsszene.
Ein zunächst gegebenes ausführliches Interview mit einem Corpsstudenten wird einen Tag später einschließlich der Fotos komplett wieder zurückgezogen, weil der Seniorconvent, das leitende Organ des Corps, die Aussagen lieber doch nicht veröffentlicht sehen möchte. Anfragen bei anderen Verbindungen bleiben trotz mehrmaligen Nachhakens ohne Ergebnis, eine ausdrückliche Absage erfolgt nur in zwei Fällen: Das Risiko, dass die Sache "nach hinten losgehe", sei ihnen zu hoch, erklärt das Mitglied einer Landsmannschaft, während der Vertreter einer Turnerschaft "kein Interesse" hat, auch weil er befürchtet, mit Burschenschaften "wieder in einen Topf geworfen zu werden".
Schließlich kommen doch noch Interviews mit einem Burschenschafter der "Allemannia" sowie mit zwei Studenten der "Akademisch-musischen Vereinigung Stauffia" zustande. Die Gesprächspartner zeigen keinerlei Berührungsängste, reden offen und widerlegen - jeweils auf ihre Weise - hier und da sogar Klischees.
Burschenschaft ist nicht gleich Burschenschaft, Corps nicht gleich Corps. Und zwischen diesen beiden gibt es auch wieder Unterschiede - über einen Kamm scheren lassen sich Studentenverbindungen nicht. Eine radikalkonservative und reaktionäre Fraktion gibt es nach wie vor, aber viele Korporationen sind liberal, betonen demokratische Werte und Toleranz. Das Hochhalten der Tradition spielt allerdings überall eine wesentliche Rolle - in Formen, die Außenstehenden gelegentlich bizarr erscheinen.
Man trägt überwiegend Mützen und Bänder ("Kein Band hält so fest wie dieses", hatte ein Corpsstudent namens Otto von Bismarck seinerzeit verkündet) in den Farben der jeweiligen Korporation ("Couleur"), trifft sich bei Festabenden, der sogenannten Kneipe oder dem Kommers, wo das Bier seit eh und je reichlich fließt, und kreuzt die scharf geschliffene Klinge bei der "Mensur", dem Fechten mit Hiebwaffen. "Schlagend" ist allerdings nur ein bestimmter, kleinerer Teil der Verbindungen. Die "Allemannia" am Karlsplatz, die älteste noch bestehende Burschenschaft in Heidelberg, gehört dazu. Jussef L. (Name der Redaktion bekannt), Student der Geschichts- und Politikwissenschaft und seit 2009 "Aktiver", hat bereits zwei Mensuren gefochten. Der 21-Jährige betrachtet das Schlagen, bei dem die beiden Kontrahenten Hiebe in extremer Geschwindigkeit ausführen, ohne sich von ihrem Standort wegzubewegen, als eine Prüfung besonderer Art: "Man lernt, einer Extremsituation zu begegnen, ohne dass wirklich etwas gefährlich ist."
Ein antiquierter Männlichkeitsritus? Das sieht Jussef L. nicht so: Es gehe eher darum, "den inneren Schweinehund zu überwinden", sagt er, und räumt ohne Umschweife ein, dass er vor der ersten Mensur ganz schön nervös war. Sein Gegenüber war es schließlich auch. Das schweißt zusammen. Eine bestimmte Anzahl von Hieben ist für jede Partie vorgeschrieben, ohne dass es Gewinner und Verlierer gibt. "Danach umarmt man sich, lässt sich zusammen fotografieren und trinkt gemeinsam ein Bier auf die Nervosität."
Die meisten Verbindungen ...
Immerhin, so blutig und lebensgefährlich wie einst im berühmt-berüchtigten Mensurlokal in der Hirschgasse, von Mark Twain drastisch beschrieben, geht es heutzutage nicht mehr zu. Und der ominöse "Schmiss" im Gesicht ist auch nicht mehr das, was er mal war - er wird von den schlagenden Studenten nicht mehr angestrebt. Bei Bewerbungsgesprächen wäre das im Gegensatz zu früher eher hinderlich.
"Unsere Mensuren werden im Publikum vielfach nicht verstanden. Das soll uns aber nicht irre machen", sprach einst Kaiser Wilhelm II., Corpsstudent der "Borussia" in Bonn, und zog eine Parallele zu den Turnieren des Mittelalters, in denen "der Mut und die Kraft des Mannes gestählt wurden". Verstehen muss man das auch heute nicht. Neben dem Schlagen zählt das Konsumieren großer Mengen von Bier auf Kommando innerhalb kürzester Zeit - einschließlich des folgenden "Papstens", dem oralen Entleeren des übervollen Mageninhalts in ein spezielles Becken, um Platz für Nachschub zu schaffen - zu den Gebräuchen der Korporierten, die bei Außenstehenden verständlicherweise am meisten Ablehnung hervorrufen. Die Heidelberger "Allemannia" ist hier eine Ausnahme: So etwas wie den "Bierjungen", ein typisches Wetttrinken, pflegen diese Burschenschafter nicht, die deswegen keineswegs abstinent sind. Aber: "Bei uns gibt es keinen Zwang zum Bier trinken", stellt Jussef L. klar.
Dass er als Sohn einer Marokkanerin und eines Deutschen - er besitzt beide Staatsbürgerschaften - ohne Probleme in die Burschenschaft aufgenommen wurde, widerspricht der These einer generellen Ausländerfeindlichkeit der Studentenverbindungen. "Gleichzeitig mit mir wurde ein Halbinder aufgenommen, und das zeigte mir, dass ich bei diesem ,Verein' nicht ganz falsch sein konnte", meint der Student, der aber weiß, dass es unter den Verbindungen auch schwarze Schafe gibt. Der schon erwähnte Fall des deutschtümelnden Antrags der "Raczeks" - ihnen spricht er die Legitimation als Burschenschaft ab - hat ihn schockiert. Aber warum trennt sich dann die "Deutsche Burschenschaft" als Dachverband nicht von solchen rechtsextremen Strömungen?
Jussef L. kann das nur indirekt beantworten, weil die "Allemannia" schon in den 1970er Jahren im Streit aus dem Verband ausgetreten ist - unter anderem deshalb, weil sie Kriegsdienstverweigerer in ihre Reihen aufgenommen hatte. Über den "Lassalle-Kreis" sozialdemokratischer Verbindungsstudenten (benannt nach einem der Gründungsväter der deutschen Sozialdemokratie, der eben jener Breslauer Burschenschaft der Raczeks beigetreten war) kennt Jussef L. viele Burschenschafter, die nach dem Vorfall den Dachverband nur deshalb nicht verlassen haben, weil sie versuchen wollen, ihn auf lange Sicht wieder zu liberalisieren.
... scheuen die Öffentlichkeit
Im stattlichen Haus der "Allemannia" am Karlsplatz wohnen zurzeit elf "Aktive". Wer als Mitglied aufgenommen wird, bekommt ein günstiges Zimmer, pro Woche dreimal ein Mittagessen und je einmal ein Abendessen und ein Frühstück. "Einer für alle - alle für einen", heißt einer der Wahlsprüche, dem sich die "Allemannen" verpflichten. Wer in eine Studentenverbindung eintritt, besiegelt damit auch einen lebenslangen Bund. "Man unterstützt sich bedingungslos, wenn jemand Probleme hat", beschreibt Jussef L. dieses Solidarprinzip, das seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft immer mehr verloren geht. Rhetorik- und Knigge-Seminare sowie Tanzkurse sind bei der Allemannia sozusagen "im Paket mit drin" und sollen fit machen für das gesellschaftliche Leben, ebenso wie Gespräche mit Bundesbrüdern, die bereits erfolgreich im Beruf stehen. Dafür wird von den Burschenschaftern Engagement innerhalb des Hauses und ein erfolgreicher Abschluss des Studiums erwartet.
Die "Allemannia" will sich gegenüber der Außenwelt nicht verschließen. "Wir versuchen, etwas an den bekannten Bildern über uns zu verändern", sagt Jussef L.. Kein leichtes Unterfangen: So lange, wie vor drei Jahren geschehen, eine andere Heidelberger Burschenschaft in ihrem Schaukasten einen Vortrag ankündigt, der den Polen die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuschiebt, haben es liberale Strömungen unter den Korporierten schwer, gegen Klischees zu kämpfen.



