Darum ist die Bahnhof-Baustelle für Sehbehinderte so gefährlich
Joachim Demke ist fast blind und muss sich täglich durch den Bereich kämpfen - Mülleimer, Ampeln, kaum Personal

Die Orientierung in der Baustelle am Hauptbahnhof ist auch für gut sehende Menschen schwer. Joachim Demke ist fast blind und ist besorgt wegen der vielen Gefahren für sehbehinderte Menschen. Foto: Rothe
Von Jonas Labrenz
Heidelberg. Das monotone Klopfen weist Joachim Demke den Weg: Der 59-Jährige sucht mit seiner rechten Hand den Sensor für Blinde an der Unterseite der blauen Ampelarmatur und wartet auf das Vibrationssignal. "Fällt Ihnen etwas auf?", fragt er und blickt durch seine dicke Sonnenbrille an den Ampelmast.
Ganz blind ist Demke nämlich nicht. Und deshalb sieht er auch den Mülleimer, der direkt vor ihm hängt, während er an der Sofienstraße mit dem Finger auf dem Sensor wartet. "Da wäre ich sonst stumpf gegen gerannt", sagt der Informatiker. Er zeigt in der Stadt die vielen Probleme, die Blinde und Sehbehinderte haben. Er selbst ist ein "Grenzgänger" - "zwischen der Welt der Sehenden und der Blinden".
Der Großteil seines schlohweißen Haars verschwindet unter einer blauen Baseballkappe. Obwohl es warm ist, trägt Demke eine Jacke, die seine weißen Arme bedeckt: "Ich habe Albinismus - mir fehlt der Hautpigmentstoff Melanin." In Deutschland sind etwa 5000 Menschen von der angeborenen Störung betroffen, weltweit einer von 20.000. "Es ist schon sehr selten", so Demke. Die Augen sind dabei oft sehr lichtempfindlich.
"Gegenlicht heißt immer Totalblendung", sagt Demke und zeigt Richtung tief stehender Sonne. Eigentlich hat er eine Sehkraft von etwa zehn Prozent, meist ist es weniger. Doch der 59-Jährige bewegt sich sicher durch die Stadt, kaum fällt sein Albinismus auf. Auch eine Armbinde oder einen Blindenstock hat Demke nicht dabei.
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An der 80 Meter langen Haltestelle Seegarten ist die gelbe Binde mit den drei schwarzen Punkten Demkes Thema: "Wenn hier zwei Busse halten und hinten dran eine Bahn kommt, habe ich aus dieser Entfernung keine Chance zu erkennen, um welche Bahn es sich handelt." Doch die Bahnen halten nur einmal - so steht es auch auf dem Haltestellenschild -, und würden laut der Rhein-Neckar-Verkehrsbetriebe (RNV) nur eine Ausnahme machen, wenn er sich als Blinder kennzeichnet. "Aber das muss doch auch möglich sein, ohne dass man sich mit einem Wimpel auf dem Kopf stigmatisiert", ärgert sich der Informatiker.
Am schlimmsten ist es für Demke rund um den Hauptbahnhof in der Baustelle. "Hier gibt es gravierende Sicherheitsmängel." Das beginne schon bei Ampeln, deren Armaturen entweder gar nicht oder kaum zu erreichen sind. Die Blinde sogar gar nicht finden können, weil sie hinter den Baustellenbaken stehen und das akustische Signal fehlt. Vor allem aber fehlt Hilfe: "Das Grundproblem ist ja, dass niemals Personal da ist", sagt der 59-Jährige. Niemand warne zum Beispiel vor den rangierenden Baufahrzeugen.
Nicht weit von Demke heult der Motor eines Baggers auf, der zwischen den Baken rangiert. "Wenn ich schon das Geräusch höre, würde ich ganz sicher nicht in die Richtung gehen." Vor allem weil die Wege für Fußgänger und Radfahrer rund um den Bahnhof sich immer wieder ändern, ist Demke verunsichert.
Zuletzt wurde die Haltestelle für seinen Bus nach Leimen Richtung Süden verlegt - genau wie die Ampel über die Lessingstraße. "Ich bin bestimmt 15 Minuten an der ehemaligen Haltestelle herumgeirrt, bis mir jemand geholfen hat - wohl, weil er selbst auch eine Behinderung hat."
Demke muss jeden Tag durch die Baustelle. Er arbeitet bei der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI), direkt nördlich des Hauptbahnhofs. Seit Jahrzehnten arbeitet er dort, geht bald in die "passive Phase" seiner Altersteilzeit - muss nach 26 Jahren bei der BG RCI also nicht mehr arbeiten.
Dass er vor seinem Ruhestand noch solche Probleme auf dem Arbeitsweg bekommen würde, hat der 59-Jährige nicht vermutet. "Die Monate, seit es die Baustelle gibt, sind die schlimmsten gewesen", sagt er.