"Charly" Hillger fuhr 25 Jahre lang Notärzte zum Einsatz
Gelernter Metzger mit Helfer-Syndrom: Als Fahrer des "HD-10"- Einsatzfahrzeugs war er Tag und Nacht in Bereitschaft.

Von Marion Gottlob
Heidelberg. Eigentlich hatte Karl "Charly" Hilger den Beruf des Metzgers gelernt. Dann führte das Schicksal den Heidelberger auf ganz andere und neue Wege: Als Krankenpfleger und Sanitäter war er rund 25 Jahre lang als Fahrer mit dem "HD-10"- Notfalleinsatzfahrzeug unterwegs.
Heute fragt sich der 74-jährige Pensionär manchmal: "Wozu sollte das gut gewesen sein?" Dann lächelt der Vater von zwei Kindern und Großvater von fünf Enkelkindern sein typisches "Charly-Lächeln", das so vielen Menschen in Not Trost gespendet hat: "Ich habe das Helfersyndrom und schon immer gerne Menschen geholfen."
Der Begriff "HD-10" stand für einen VW mit dem polizeilichen Funkrufnamen "Heidelberg 10" und wurde zur Abkürzung für ein neues System der Notfall-Hilfe, das 1964 in Heidelberg eingeführt und weltweit zum Vorbild wurde: Parallel zum Rettungswagen mit Sanitätern fuhr ein Arzt im neuen HD-10-VW zum Einsatz, um verletzte Menschen in Not sofort und vor Ort medizinisch so zu versorgen, dass sie sicher in die Uniklinik transportiert werden konnten.
Zunächst saßen die Notärzte persönlich am Lenkrad. Aber es kam vor, dass ortsfremde Ärzte sich in Heidelberg verirrten, so dass kostbare Zeit für die Versorgung der Kranken verloren ging. Manchmal wurde es auch notwendig, dass der Arzt Patienten im Rettungswagen auf dem Weg zur Klinik begleitete. Dann blieb der HD-10-VW zurück und musste am nächsten Tag abgeholt werden.
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So wurde Anfang der 80er-Jahre beschlossen, dass ein eigener Fahrer den Notfallmediziner begleiten sollte: So wurde Karl "Charly" Hillger der erste Begleitfahrer der Welt für ein Notfallarzteinsatzfahrzeug (NEF). Er kann nicht zählen, wie oft er sich nach dem Alarm durch den Piepser bei der Leitstelle mit dem Satz meldete: "HD-10 – Wo? Was?" Dann machte er sich sofort auf den Weg, um zu helfen.
Karl Hillger ist ein wahrer Heidelberger: In seinem Elternhaus in den Neckarstaden 56 kam er auf die Welt. Er war das jüngste von fünf Kindern und der einzige Sohn neben vier Mädchen. Der Schlossberg mit dem Schlossgarten wurde zum "Jagdrevier" des Buben und seiner Freunde. Wurde er als Junge von den Eltern bevorzugt? Charly Hillger wiegt den Kopf: "Nein." Regelmäßig half er beim Ausfahren von Brennholz: "50 Pfennige für das Bündel."
Nach dem Hauptschulabschluss machte er eine Ausbildung zum Metzer. Eine seiner Schwestern hatte ihm den Platz vermittelt. Er schwärmt noch heute: "Es gab gute Worscht." Doch aus gesundheitlichen Gründen konnte er den Beruf nach dem Abschluss der Lehre nicht ausüben. Sein Vater Karl hatte sich daraufhin gewünscht, dass sein Sohn nach dem eigenen Vorbild den Beruf des Medizinischen Bademeisters und Masseurs erlernen sollte.
Aber nach einem Praktikum im Krankenhaus war für den jungen Mann klar: "Ich habe keine Angst vor Krankheiten. Im Gegenteil, ich möchte kranken Menschen helfen. So wollte ich in der Krankenpflege tätig werden."
Karl Charly Hillger war seit seiner Schulzeit ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz aktiv. Daneben absolvierte er nun eine einjährige Ausbildung zum Krankenpflegehelfer und die dreijährige Ausbildung zum Krankenpfleger. Später fand er Arbeit am Universitätsklinikum. In der Notfallambulanz sah er Patienten jeden Alters mit Leiden aller Art.
Als er gefragt wurde, ob er den HD-10 als Fahrer begleiten wollte, sagte er sofort zu: "Ich hatte schon zuvor regelmäßig das Auto gewartet und das Material aufgefüllt." Dank seiner Fürsorge waren das Infusionsbesteck, der Beatmungsbeutel und das Material für Intubationen immer für den nächsten Einsatz vorbereitet. Nun wurde der Krankenpfleger Kollege des HD-10-Notfall-Teams.
Ab sofort war Charly Hillger Tag und Nacht rund um die Uhr in Bereitschaft. Wann immer der Piepser erklang, ließ Charly alles liegen und stehen, um sich auf den Weg zu machen. Der HD-10-VW stand dafür nahe der Wohnung der Familie Hillger bereit. Sobald Hillger die Infos zum Ort und dem Geschehen erfahren hatte, schlüpfte er in die Einsatzkleidung. Nachts zog er die Montur einfach über den Schlafanzug: "Zum Umziehen war keine Zeit."
Anschließend düste er los, um den Arzt abzuholen. Er sagt heute: "Das brauchte Zeit, aber es ging nicht besser." Dann raste der Fahrer mit dem Arzt zum Einsatzort. Charly lächelt erneut und zeigt auf Bilder: "Das sind Fotos, auf denen wir wegen zu hoher Geschwindigkeit geblitzt worden waren, immer wieder in der Römerstraße."
Hillger hatte einen Ordner mit Stadtplänen der Stadtteile von Heidelberg und der Gemeinden rund um Heidelberg angefertigt. Einmal wurde er bei einer nächtlichen Fahrt unsicher: "Sind wir auf dem richtigen Weg nach Bammental?" Er war erleichtert, als er in Neckargemünd das Hinweisschild nach Bammental sah. Charly Hillger hat mit dem Notfall-Team obdachlosen oder bedürftigen Menschen genauso geholfen wie den wohlhabenden Bewohnern von Villen. Sein Team kam zu 13 werdenden Müttern, die in der Sicherheit der Klinik 13 Babys zur Welt brachten. Bei einem Kollegen kam später sogar ein Baby im HD-10 auf die Welt.
Einsätze in Not sind immer anspruchsvoll. Einmal konnte das Charly-Team einen Mann, der blindlings über die Autobahn gelaufen und überfahren worden war, nur tot bergen. Ein anderes Mal musste das Team den Tod eines zehnjährigen Mädchens feststellen, das ermordet worden war. Charlys Frau Edeltraut sagt: "Es gab keine Supervision. Mein Mann hat seine Erfahrungen immer ganz alleine verarbeitet. Wenn Kinder zu Tode kamen, war das besonders schwer. Mein Mann schaute auf seine eigenen Kinder und war froh, dass sie am Leben waren. Doch dann schwieg er tagelang. Ich konnte nur warten, bis er wieder mit dem Reden anfangen würde."
Auch das konnte passieren: Ein Neffe von Charly Hillger wurde bei einem Autounfall schwer verletzt und verstarb in der Notfallambulanz, während sein Onkel dort Dienst hatte. Ein anderes Mal war das Team rund um Charly in Handschuhsheim unterwegs und konnte bei dem Onkel seiner Frau nur den Tod feststellen. Der Verwandte war eines natürlichen Todes gestorben. Charly Hillger hebt bei der Erinnerung beide Hände: "Man muss professionell sein, egal, auf welche Situation man trifft."
Vier Jahre lang fuhr Charly den HD-10-VW alleine. Dann wurde es zu viel. Nach langen Kämpfen mit der Verwaltung wurden zwei weitere Pfleger-Stellen für den NEF-Einsatz geschaffen. Heute sind fünf Notarztfahrzeuge im Einsatz. Waren es anfangs 400 Einsätze für den HD-10 pro Jahr in Heidelberg, zählt man heute rund 9500 in Heidelberg und dem Rhein-Neckar-Kreis. Wurde der HD-10 früher vorwiegend zu Unfällen gerufen, so sind es heute oft Einsätze bei akuten Notfällen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Hatte früher das Dreipunkt-EKG zur Aufzeichnung elektrischer Impulse ausgeschlagen, wenn eine Straßenbahn vorbeifuhr, so sind die Fahrzeuge heute mit der modernsten Technik ausgestattet. Zusätzlich ist der neue Medical Intervention Car (MIC) im Einsatz und steht für die Zukunft der Notfallmedizin. Eines aber bleibt gleich. Der Pionier Charly Hillger sagt: "Wir alle wollen Menschen helfen."