Von Stefanie Bisping
Schafe spazieren in einer langen Reihe über den Deich. Dahinter erstrecken sich Salzwiesen, auf denen weitere Schafe am Grün zupfen, das Watt und eine Silhouette am Horizont: Föhr. Dorthin wollen wir. Zu Fuß. Zehn Kilometer unter zartblauem Himmel und über den von der Ebbe freigelegten Meeresboden, die längste Wattwanderstrecke an der deutschen Nordsee.
Am Morgen hatte das Wetter noch alles in Frage gestellt. Regen peitschte gegen Fenster, Wind heulte, im Hotelzimmer ragte der Vorhang vor dem gekippten Fenster waagerecht ins Zimmer. Doch schnell kehrte die Sonne zurück. Nur bei anhaltendem Regen, starkem Wind und bei Nebel wird die Wattwanderung abgesagt. Jetzt war die Prognose günstig, und Wattführerin Regina Matthiesen aus Husum entschied, zu laufen. Auf dem Hunwerthusumer Deich erklärt sie Grundlegendes: "Heute ist um 11.42 Uhr Niedrigwasser. Von da an läuft das Wasser sechs Stunden lang über die Priele zurück." Jetzt ist es kurz vor zehn. Sieben Priele müssen wir queren, darunter der "böse Priel", bei dem man nie wisse, wie viel Wasser darin steht. Aber auch der "schöne Priel" erwartet uns, allerdings erst kurz vor dem Ziel. Im Deich neben ihr steckt ein Spaten, mit dem sie die verborgenen Wunder des Watts ausgraben wird.
Eigentlich dürften wir gar nicht hier sein, sagt die Wattführerin. Seit 1985 steht das ganze Gebiet als Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer unter Schutz. Es ist Teil des wichtigsten Naturraums in Deutschland und bildet zusammen mit dem niedersächsischen und Hamburgischen Wattenmeer das vogelreichste Gebiet in ganz Europa. Das Watt zwischen dem Festland und Föhr gehört zur am strengsten geschützten "Nullnutzungszone" und ist für die Öffentlichkeit geschlossen. Für Matthiesens Route gilt jedoch ein Bestandsschutz, den sie mit der Strecke von ihrem 2015 verstorbenen Vorgänger übernahm, dem Wattführer Boy Boysen.
Föhr liegt noch fern am Horizont, doch für die Wattwanderer ist der Weg das Ziel.Der 1943 geborene Boysen war die Route bereits als Dreizehnjähriger gelaufen, so wie andere einen Berg besteigen – einfach, weil er da ist. Einmal schaffte er es innerhalb einer Tide nach Föhr und zurück. Das war lange, bevor das Wattenmeer Nationalpark und später, im Jahr 2009, Unesco-Weltnaturerbe wurde. Regina Matthiesen begleitete ihn fünfzehn Jahre lang immer wieder, bevor sie die Touren übernahm. Denn wenn das Wetter sich jäh ändert und das Land am Horizont in Dunst und Regenschleiern verschwindet, ist sehr gute Gebietskenntnis noch wichtiger als belastbare Nerven. An siebenundzwanzig Tagen im Jahr darf sie die Tour nach Föhr anbieten; jede meldet sie bei der Wasserschutzpolizei an. Im normalen Leben ist sie als technische Zeichnerin tätig. Das Wattwandern ist für sie viel mehr als ein Hobby, aber nicht ihr Beruf.
Durch die mit Schafen gesprenkelte Salzwiese geht es noch mit Schuhen an den Füßen. Denn außer Gräsern, Strandsode und der Quellerpflanze, deren Spitzen sich für die Zubereitung von Kräuterbutter eignen, wachsen auf den Wiesen, die hundertachtzig Mal im Jahr überflutet werden, auch Disteln. Jenseits der Schafe heißt es dann: Schuhe aus. Der Einstieg ins Watt sei nach dem Regen am Morgen wie Schmierseife, warnt Regina Matthiesen. Tatsächlich ist der Untergrund so rutschig, dass ihre Wattwanderer sich wie auf Eiern bewegen, aufrecht gehalten vor allem von dem Wunsch, nicht gleich am Anfang mit dem ganzen Körper in tiefschwarzen Morast zu sinken.
Wattführerin Regina Matthiesen zeigt ihren Gästen auch die kleinen Wunder des Watts.Doch bald wird der Boden verlässlicher. Die Füße sinken nicht mehr bis über den Knöchel ein, es liegen kaum noch Muschelschalen herum, an denen man sich verletzen könnte. Zarte weiße Wolken spiegeln sich im nassen Schlick. Föhr wartet ungerührt am Horizont, jenseits einer sehr weiten Fläche, in der sich die sieben Priele verbergen – unter anderem. Regina Matthiesen deutet auf winzige schwarze Punkte am Boden, die man für Spritzer halten oder gar nicht bemerken könnte. Tatsächlich sind es Wattschnecken. Sie zeigt uns die sternförmige Spur einer Großen Pfeffermuschel, die das erstaunliche Alter von achtzehn Jahren erreichen kann und sich bis zu zwanzig Zentimeter tief im Schlamm eingräbt. Mit ihrem Atemsipho, einer Art Schlauch, vollführt sie bei der Nahrungsaufnahme Bewegungen, durch die die sternförmige Spur im Sand entsteht. Und wirklich fördert ein Spatenstich die Muschel unter der Spur zutage. Eine Herzmuschel, die sich zum Schutz vor Vögeln zwei bis drei Zentimeter unter der Oberfläche versteckt, liegt ebenfalls im Morast auf dem Spaten. Die Kinder finden sogar einen toten Krebs, den sie aber zu ihrem Bedauern im Schlick liegen lassen müssen.
Der erste Priel ist lang und recht tief, schnell reicht sein Wasser bis zur Mitte des Oberschenkels. Trotzdem ist das Laufen angenehm, das Wasser nicht kalt, sondern wärmer als die Luft. Als er hinter uns liegt, will Wattführerin Matthiesen den versprochenen Wattwurm ausgraben, der für die Reinigung der obersten Schicht des Meeresbodens zuständig ist. Zwar ist sein Standort leicht an den spaghettiförmigen Sandförmchen zu erkennen, die er an die Oberfläche befördert, doch fördert der Spatenstich zunächst nur einen Bäumchenröhrenwurm zutage, der sich mit hundert Tentakeln Plankton einverleibt. Wir sehen nur seine Röhre, in die er sich bei Ebbe ganz zurückzieht. Auch ein Seeringelwurm steckt im Schlamm. Erst beim dritten Versuch lässt sich ein Wattwurm finden, den jeder einmal in die Hand nehmen darf. So gefesselt sind wir von den Ausgrabungsarbeiten und dem Betrachten des Gewürms, dass wir kaum bemerken, wie die Sonne hinter Wolken verschwindet, die nicht mehr zart und weiß, sondern plötzlich schwer und schwarz sind.

Doch so plötzlich Regen und Wind lostobten, so schnell klart es wieder auf. Föhrs Silhouette taucht aus dem Dunst, wir queren den nächsten Priel, ohne ihn recht zu bemerken. Die Küste des Festlands ist unterdessen in einige Ferne gerückt. Es ist Zeit für eine Pause im Stehen: Nasse Regencapes wegpacken, einen Schluck Wasser trinken, eine vage Schwere in den Beinen bemerken, umschauen. Die Windräder auf dem Festland sind weit weg. Weiße Wolken hängen dekorativ vor blauem Himmel. Doch wir wissen nun, dass diese Schönheit nicht unbedingt von Dauer ist.
Regina Matthiesen erzählt von Wattwanderungen in der Weihnachtszeit mit Gummistiefeln rund um die Inseln und Halligen. Noch hat sie niemanden gefunden, dem sie ihr Wissen und damit irgendwann auch die Route zwischen Festland und Föhr weitergeben kann. Anders als die von nur einem tiefen und einem kleineren Priel gekreuzte Sandbank zwischen Föhr und der Nachbarinsel Amrum, die seit jeher bei Ebbe als Fußweg zwischen den Inseln genutzt wurde und romantische wie wirtschaftliche Verbindungen unter ihren Bewohnern beförderte, hat das Pendeln zwischen dem Festland und Föhr zu Fuß keine Tradition. Die Küste bei Dagebüll hat sich durch Landgewinnung im Lauf der Zeit immer wieder verändert, so dass sich keine Route etablierte, sondern die Menschen seit jeher den Wasserweg wählten.
Mühelos durchwaten wir den bösen, aber heute nur knietiefen Priel, von Möwen aufmerksam beobachtet. Auch die letzte Etappe birgt Herausforderungen: Muschelfelder, in denen man bei jedem Schritt darauf hoffen muss, sich nicht an einer im Boden versteckten Schale der Sandklaffmuschel zu schneiden; Bänke voller langem grünen Seegras; schließlich, kurz vor der Insel, ein weiterer Abschnitt tiefschwarzen und äußerst rutschigen Morasts. Dann ist es geschafft. Wir sind zu Fuß nach Föhr gelaufen, haben fast vier Stunden lang kein Motorengeräusch gehört und nicht ein einziges Stück Plastik gesehen. In den letzten Wasserbecken des Watts versuchen wir, unsere Füße zu reinigen.
Der Rest des schwarzen Schlamms verschwindet auf dem Ziegenhof Matzen, wo wir den Gartenschlauch zur Hilfe nehmen dürfen. Die allerletzten schwarzen Ränder an den Zehen werden indessen noch einige Duschen überdauern. Ein wenig mitleidig betrachten wir Spaziergänger, die am Morgen mit der Fähre nach Föhr gefahren sind. An diesem Abend schlafen wir sehr früh.