Von Rainer Heubeck
Noch schiebt sich unser Bus durch eine dichte, graue Wolkensuppe, doch bald schon öffnet sich der Blick Richtung Süden - auf kahle Berge, kleine Dörfer und auf eine Küste, deren azurblaues Wasser hinter einem leicht diesigen Vorhang hervorschimmert. Am Horizont lassen sich die Konturen einer Insel erahnen, es ist das griechische Korfu. Luftlinie liegt es nur gut fünfzig Kilometer von der kurvigen Straße über den Llogarapass entfernt.
Über unzählige Serpentinen schraubt sich unser Bus langsam nach unten, in einer Kurve stoßen wir auf einen Bunker. Albaniens kommunistischer Diktator Enver Hoxha hatte Hunderttausende dieser Betonhäuschen bauen lassen, angeblich, um das Land vor einer Invasion zu schützen, tatsächlich wohl eher, um Albaner an der Flucht ins Ausland zu hindern. Seit die Grenze geöffnet ist, haben viele Menschen das Weite gesucht, anfangs per Flüchtlingsboot nach Italien. Viele Bewohner im Süden Albaniens hatten bald darauf noch eine andere Möglichkeit. Da sie Orthodoxe waren und griechisch sprachen, hat auch Griechenland sie mit offenen Armen aufgenommen.
In Dörfern wie dem Ort Dhermi, den wir am nächsten Tag besuchen, blieben deshalb vor allem die Alten zurück. Obwohl ein Werktag ist, verlässt ein kleiner Zug Menschen die Kirche, allesamt haben sie faltige Gesichter. Hier trifft man sich zu Beerdigungen, nur selten zu Taufen. Wie viele Orte hier an der ionischen Küste besteht Dhermi aus zwei Teilen, einem am Berghang gelegenen alten Dorfkern und einer moderneren Siedlung in der Nähe der Küste. Oben, im traditionellen Dorf, fühlten sich die Menschen sicherer vor Piraten. In der kommunistischen Zeit bewirtschafteten sie von hier aus Oliven- und Zitrusplantagen. Heute wird der am Meer gelegene neue Ort in den Sommermonaten von Badetouristen nahezu überflutet, der am Berghang gelegene Ortsteil hingegen führt ein gemächliches Schattendasein. Trotzdem lassen sich hier versteckte Kleinodien finden. Irakli Kocollari hat verschiedene Bergdörfer in der Region besucht und kleine Broschüren darüber geschrieben. Er führt uns zur oberhalb von Dhermi gelegenen Marienkirche. Die orthodoxe Kirche, in der sich alte Fresken finden, ist klein, aber in einem akzeptablen Zustand. In der kommunistischen Zeit, als Albanien offiziell zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt worden ist, war das Gotteshaus verschlossen, als kulturelles Erbe wurde es dennoch bewahrt und konserviert. "Das war damals fast besser als heutzutage, weil der Staat jetzt kein Geld mehr für den Denkmalschutz hat", klagt Martin Mato, ein Germanist und Albanologe, der immer wieder Kulturreisende durch den albanischen Süden führt. Die Dörfer im Hinterland der Küste ließ er dabei bislang häufig links liegen - doch mittlerweile gibt es auch hier interessante touristische Angebote. So wurde mit Unterstützung der "Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit" (GIZ) ein Netz von Wanderwegen ausgeschildert, die von der Küste ins Hinterland führen und dort die Bergdörfer durch markierte Pfade verbinden.
"Die ideale Wanderzeit im albanischen Süden ist von April bis Mai und im September und Oktober", berichtet Ricardo Fahrig, der seit vier Jahren Wandertouren in Albanien und in anderen Balkanstaaten anbietet und einen kleinen Reiseveranstalter gegründet hat, der insbesondere deutschsprachigen Besuchern Albanien näherbringt. "In den Sommermonaten hingegen", sagt er, "wird es hier im Süden zu heiß, da wandert man besser in den albanischen Alpen."
In Bergdörfern wie Qeparo findet sich manches Idyll. Fotos: thinkstock (1)/Rainer Heubeck (2)
Wir wandern mit Ricardo Fahrig vom Dorf Kudhes nach Qeparo, laufen auf steinigen Pfaden zwischen Kräutern und Büschen. Albanien ist ein Land, das biologisch sehr vielfältig ist und auch zahlreiche Heilkräuter exportiert - wer hier unterwegs ist, kann nicht nur viel sehen, sondern auch riechen und schmecken: Gerade blüht der Oleander, überall schmückt er die Landschaft mit orangefarbenen Farbtupfern. Auch Salbei, Kampfer und Lavendel betören Augen und Nase. Während unserer zweieinhalbstündigen Wanderung begegnen wir nur einem Schäfer, im Ort Qeparo jedoch treffen wir tatsächlich ein paar andere Touristen. Sie haben von einem Franzosen gehört, der hier einige alte Häuser gekauft hat und darin stilvolle Ferienwohnungen eingerichtet hat - doch wo diese zu finden sind, haben sie bislang noch nicht herausgefunden.
Wenn Wanderungen von Dorf zu Dorf populärer werden, brauchen die Gäste natürlich auch Übernachtungsmöglichkeiten. Julieta Cipa hält im Ort Pilur einige einfache, aber saubere Zimmer für Besucher bereit. Im ummauerten Innenhof der "Vila Cipa" bewirtet sie mit Schafskäse, Tomaten, Oliven und weiteren Köstlichkeiten. Für uns hat sie sogar noch eine Gesangsgruppe eingeladen. Im albanischen Süden pflegen die Menschen den polyphonen Gesang, ähnlich wie beim amerikanischen Gospel gibt es einen Vorsänger, der Fragen stellt, die von einem Chor dann mehrstimmig beantwortet werden. Eine solche Gesangsformation hat sich heute hier eingefunden, denn Cipas Vater gilt als eine Art Nestor der Traditionspflege. "Viele der Texte, die gesungen werden, sind sehr romantisch. So heißt es beispielsweise ‚Du Frau aus dem Gebirge, du bist die Arznei für den Hirten, denn du öffnest ihm das Herz‘", übersetzt Martin Mato.
Im albanischen Süden pflegen die Menschen den polyphonen Gesang, ähnlich wie beim amerikanischen Gospel.
Die meisten Sängerinnen und Sänger sind bereits grauhaarig. Dafür ist die Gastfreundschaft hier echt und nicht aufgesetzt. Und wenn zum Essen nicht nur Wein, sondern auch albanischer Raki serviert wird, dann wäre es ziemlich unhöflich, das Angebot abzulehnen. Einige Mitreisende tun dies dennoch - und das aus gutem Grund. Sie wollen die Strecke vom Bergdorf Pilur hinunter an die Küste nicht zu Fuß oder mit dem Jeep zurücklegen, sondern mit dem Mountainbike. Dafür hat man besser einen klaren Kopf. Der verschlafene Ort Pilur, von dem aus sie losfahren, wird auch der Balkon der Adria genannt. Von hier hat man einen herrlichen Blick auf das Küstenpanorama, fast so beeindruckend wie ein paar Tage vorher vom Llogaraopass.
Natürlich wollen wir die Küste nicht nur sehen, sondern das Meerwasser auch spüren. Wanderführer Ricardo Fahrig empfiehlt einen ganz besonderen Ort, den Gjipe-Strand. Neben einer siebzig Meter tiefen Schlucht, dem Gjipe-Canyon, erreichen wir nach einer kurzen Wanderung einen grandios gelegenen Kiesstrand mit glasklarem Wasser. Ein Idyll, das wir fast für uns alleine haben. Wir stellen schnell fest, dass der Süden Albaniens aus der Nähe gesehen noch großartiger ist als das Panorama, das sich vom Llogarapass aus angekündigt hat.