Von Wibke Helfrich
Ich stehe an Deck der M/N Forest. Um mich herum ist es stockdunkel, nur vereinzelt blitzen Sterne durch die tief hängenden Wolken. Vage kann ich die Berge und das Meer ausmachen, ich lausche angespannt in die Nacht. Das Wasser schwappt in dem geschützten Fjord leise an den metallenen Bootsrumpf - ansonsten absolute Stille. Hier an der Südwestküste Chiles, weitab jeglicher Zivilisation in den Fjorden Patagoniens, gibt es nichts als Natur. Nichts, was die Ruhe stören könnte. Plötzlich höre ich es ganz nah bei mir: ein Geräusch, als würde mit viel Druck eine Wasserfontäne in die Luft geschossen werden. Das Plätschern am Boot wird durch die Bewegung im Meer lauter. Noch mehr Atemfontänen werden in die Luft geblasen - auch in der Nacht schwimmen die Wale ganz nah am Boot vorbei.
Vor einigen Jahren haben chilenische Meeresforscher eine Gruppe von Walen in den Fjorden nahe der Magellanstraße entdeckt. Eigentlich reisen alle Wale gemeinsam vom Äquator in die Antarktis, aber aus irgendeinem Grund gibt es einige, die hier bleiben, während die anderen ihre Reise in den Süden fortsetzen. Es ist ein ungeklärtes Phänomen, an dem die Wissenschaftler noch forschen. Fakt ist, dass dies der einzige Ort in der südlichen Hemisphäre ist, an den Buckelwale außerhalb der Antarktis zum Krill fressen kommen - ein geheimer, fast unbekannter Zufluchtsort.
2003 wurde hier das erste chilenische Marineschutzgebiet gegründet. Denn nicht nur Buckelwale, sondern auch Orcas, Minkwale, Seelöwen, See-Elefanten, Pinguine, Petrele und Kormorane wissen die abgelegene Inselwelt zwischen Patagonien und Feuerland zu schätzen. Der Park ist so unbekannt, dass noch nicht mal das allwissende Wikipedia einen Treffer dazu auswirft. Kein Wunder also, dass es momentan nur zwei Veranstalter gibt, die Touristen für zwei oder drei Tage in die Fjorde rund um die Insel Carlos IV bringen, wo die meisten Tiere gesichtet werden können.
Unser Boot bricht um 18 Uhr in der Nähe von Punta Arenas zu der achtstündigen Fahrt auf. Am Kap Froward umrunden wir die südlichste Spitze des chilenischen Festlandes und kreuzen dann weiter durch die labyrinthartige Fjordlandschaft Patagoniens - wo über die Jahrhunderte hinweg mehrere Boote verschwanden … Ohne GPS-Navigation wäre das auch heute noch ein Heldenstück! Nur 13 Passagiere tummeln sich auf dem Boot, zuzüglich Besatzung. Die meisten gehören zu einer Incentive Reise einer chilenischen Firma. Nach reichlich Zuspruch an der Schiffsbar - Getränke sind im Preis inbegriffen - und ein bisschen Karaoke ist relativ schnell Ruhe an Bord eingekehrt. Nur die Motoren, die uns noch näher an unser Ziel bringen, stampfen konstant vor sich hin.
Zwar ist im Dezember in Südchile Hochsommer, aber so weitab des Äquators bedeutet das nicht allzu viel - am nächsten Morgen fegt ein Schneesturm um das Boot und wir können kaum die Hand vor den Augen sehen. Unseren englischsprachigen Guide Francesco scheint das nicht groß zu stören. Er hebt fröhlich einen Windmesser in die Luft und gibt der Besatzung dann ein Zeichen, die Zodiacs für unseren Landausflug klar zu machen: Inzwischen haben wir immerhin sommerliche acht Grad und Windgeschwindigkeiten von rund 80 Stundenkilometer.
Die Crew verteilt Ölzeug und Gummistiefel. Mit all den vielen Kleiderschichten sehe ich aus wie ein orangefarbener Mini-Wal, aber wenigstens pfeift der Wind nicht mehr durch die Kleider. Endlich reißen die Wolken auf, und wir sehen zum ersten Mal den Santa-Ines- Gletscher, der sich unaufhaltsam über und an den Felsen vorbei in zwei mächtigen Zungen zum Meer geschoben hat. Von unseren Zodiacs aus sieht die hohe, hellblaue Wand beeindruckend aus. Prompt löst sich ein riesiger Eisbrocken und poltert mit viel Getöse, vom erbosten Geschrei der Vögel begleitet, in das Wasser.
Nichts als Tiere
Um uns herum schwimmen Eiswürfel in verschiedensten Größen und Farbschattierungen. Glücklicherweise sind unsere kleinen Beiboote wendiger als die Titanic, und so erreichen wir ohne Zwischenfälle den Kieselstrand vor dem Gletscher. Francesco zaubert eine Flasche Whiskey und Becher aus seiner Tasche und wir trotzen morgens Wind und Wetter mit einem Drink auf Gletschereiswürfel!
Die auf den Felsen nistenden Kormorane schauen uns interessiert bei unserem Gelage zu. Als unsere kleinen Boote weiterziehen, schaut ein Seelöwe verschlafen aus einer Felsspalte und Pinguine watscheln vom Ufer ins Meer. Landschaft ist völlig unberührt - kein Haus, kein Weg, kein Geräusch. Nur Tiere, die uns interessiert anlinsen. Die Berge schimmern je nach Licht in Smaragdgrün oder Olivbraun, einige sind schneebedeckt. Über ihnen kreist majestätisch der König der südamerikanischen Lüfte - der Kondor.
Zurück an Bord, mit lebensrettendem Glühwein ausgestattet, verlassen wir die vielen engen Buchten, um endlich auch bei Tageslicht Wale zu sehen. Bei jedem Seehund stürmen alle Passagiere an Deck, um ihn mit einem lauten Ah und Oh zu feiern. Die Armen - sie wissen wohl, dass ihre Show nur von kurzer Dauer ist. Sobald der erste Wal in der Ferne an seiner Wasserfontäne erkannt wird, hat keiner mehr Augen für etwas anderes. Im Gegensatz zu anderen Walfahrten jagt unser Kapitän aber nicht der Fontäne hinterher, sondern drosselt stattdessen das Schiff, so dass es ruhig im Wasser liegt. Francesco grinst nur, als wir ihn empört anschauen: "Die Wale kommen hier von alleine - ihr müsst nur warten".
Kaum hat er ausgesprochen, hören wir einen Wal atmen … schon viel näher. Alle Passagiere starren mit gespannter Vorfreude auf das Wasser, wie sonst nur kleine Kinder auf den Weihnachtsbaum. Auf der anderen Seite erscheint ein zweiter Wal. Mit einer seelenruhigen Eleganz lässt er seine Rückenfinne durch die Wasseroberfläche gleiten. Steuerbord ertönt eine neue Wasserfontäne - dieses Mal nur 10 Meter vom Boot entfernt. Vor Freude jubelnd rennen wir hinüber und verpassen dabei fast, wie der Wal auf der anderen Seite in einer wunderschönen Abrollbewegung seine Schwanzflosse aus dem Wasser hebt.
Francesco macht wie wild Bilder. Die Musterung auf der Heckflosse, erklärt er uns später, ist für Wale ein Identifizierungsmerkmal wie für uns der Fingerabdruck. An Bord ist ein dickes Buch von über 120 verschiedenen Schwanzflossen-Fotos. Anhand dieser Bilder können die Wissenschaftler Informationen mit den Meeresbiologen in Kolumbien - dem Überwinterungsort dieser Buckelwale - austauschen: welcher Wal wandert wann wohin, hat er Junge bekommen; das sind nur einige der Punkte, die interessant sind. "Schaut mal, ein Junges, das ist neu" ruft Francesco und deutet auf ein immerhin schon fünf Meter langes graues, rundes Etwas, das sich vor unseren Augen im Meer rollt.
Wir können die großen weißen Flossen unter der Wasseroberfläche sehen, aber da legt es sich auch schon zur Seite und wedelt ein bisschen mit den Pranken in der Luft. Unter wildem Getöse kreiselt es noch einmal um die eigene Achse, um dann abzutauchen. Enttäuscht ob dem Ende der Show starren wir auf das Wasser. Mit einer lauten Wasserfontäne taucht es just in diesem Moment auf der anderen Seite des Bootes wieder auf - gerade so, als hätte es eine Menge Spaß an diesem Versteckspiel. Mehr als zehn Wale planschen zwischenzeitlich um das Schiff - manche verspielt mit viel Wasserwirbel, andere sehr elegant schwimmend.
Es regnet, es schneit, die Sonne scheint, Regenbogen verzaubern die Fjorde in einen magischen Ort, bevor es wieder aus Kübeln schüttet und eisiger Wind uns von Deck vertreiben will (erfolglos). Stundenlang schauen wir dem Spektakel zu, ohne eine Sekunde müde zu werden. Ich mache unzählige Fotos, da ich denke, dass die Wale bestimmt gleich abtauchen und weg sind. Aber sie bleiben. Und fast scheint es, als würde ihnen unsere Gesellschaft genauso viel Spaß machen, wie uns die ihrige.