Heidi - Auf den Spuren eines Mythos
Maienfeld im Schweizer Kanton Graubünden diente der Schriftstellerin Johanna Spyri als Inspiration für ihren Roman "Heidi".

Von Julia Scholz
Das kleine Örtchen Maienfeld im Schweizer Kanton Graubünden liegt nur wenige Autominuten entfernt des Badekurorts Bad Ragaz im Alpenrheintal. Maienfelds umgebende Natur- und Alpkulturlandschaft gilt als Quell der Inspiration für Johanna Spyris Roman "Heidi", der die wohl bekannteste Erzählfigur der Schweiz hervorbrachte. All die charakteristischen Elemente, wie satte Wiesen, dunkle Tannen und das Alpenglühen an den Spitzen der Felsmassive bilden eine Kulisse, die nicht zuletzt für die Schriftstellerin Spyri ein immerwährender Sehnsuchtsort ist. Die Erzählung um das fünfjährige Waisenmädchen avancierte zum erfolgreichsten Schweizer Buch aller Zeiten.
Wenngleich schon mehr als 140 Jahre alt, berührt es die Herzen der Leser und Zuschauer der mannigfaltigen Serien- und Spielfilmverfilmungen über Jahrzehnte hinweg bis heute. Folgerichtig war das Bestreben, die Gebäude, die dem Roman als Matrize dienten, als steinerne Zeugnisse zu erhalten und möglichst unverändert in einem Freilichtmuseum der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Stiftung Heidi-Dorf kümmert sich um den Erhalt des "Dörfli", das dem Heidi-Mythos ein authentisches Denkmal setzt. Es ist exemplarisches Sinnbild für einstige Schweizer Lebenswelten auf der Alp.
Beim Aussteigen auf dem Parkplatz weht uns die saubere Bergluft um die Nase, die frisch nach Wiese duftet – das ist typisch Schweiz. Der Weltbestseller lockt Besucher von rund um den Erdball in das beschauliche Maienfeld, internationale Gäste kommen beispielsweise aus Japan, den Niederlanden, Saudi-Arabien oder der Türkei. Die Sprachenvielfalt, die gut mit jener am Fuße des Pariser Eifelturms mithalten kann, kontrastiert mit dem urigen, ländlichen und abgeschiedenen Charakter des Heidi-Dorfs.
Dieses setzt sich aus fünf am Berghang gelegenen Gebäuden zusammen: Da ist der Ticket-Shop und Dorfladen mit der darin befindlichen kleinsten Poststelle der Schweiz mit Sonderstempel, das Heidihaus, die Alphütte, der Rathausstall und die Dorfschule. Trotz des Andrangs entsteht erstaunlicherweise kein Gedrängel, der Ton – in allen hier gesprochenen Sprachen – ist sehr freundlich und die Stimmung bei den Besuchern heiter.
Die kleinen Besucher eilen meist zunächst zum Streicheln ins Ziegengehege. Das Freiluftmuseum präsentiert keine künstliche Kitsch-Welt, sondern ist auf Wissensvermittlung bedacht. Etwa wie sich das Leben um das Jahr 1880 in alpinen Bergwelten gestaltete. So paart sich Fiktion mit historischen Fakten, und Besucher lernen beiläufig etwas über die Viehhaltung, Beweidung oder Käserei sowie den Getreideanbau und Schulunterricht dieser Tage.

Es ist beachtlich, wie viele Generationen und Nationen die Romanfigur Heidi berührt hat – und wie glücklich viele sind, sich ihr hier ganz nah zu fühlen. Oder gar in ihre Rolle zu schlüpfen. Die Augen der vier Kinder einer türkischen Familie leuchten, als sie sich am urigen Bauerntisch hinsetzen und für das Familienalbum posieren. Man merkt, dass sie sich hierauf schon lange gefreut haben. Und sie sind längst nicht die einzigen, die passend zurechtgemacht in Dirndl und mit Flechtfrisuren kommen.
Für alle, die im Heidi-Gefühl weiter aufgehen möchten, gibt es einen weiteren Ausflugstipp. Schließlich heißt es "Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge" – und so wurde auf 1600 Metern in Alm-Höhe der "Heidi-Pfad" angelegt. Um dorthin zu gelangen, gondelt man mit der Bergbahn auf den mächtigen Pizol hinauf. Der 2848 Meter hohe Hausberg von Bad Ragaz stellt für aktive Naturfreunde ein bilderbuchmäßiges Wander- und Skigebiet dar. Für den vier Kilometer langen Pfad, bei dem es 121 Höhenmetern zu überwindenden gilt, kann an der oberen Bergbahnstation ein Bollerwagen gemietet werden.
Der Pfad ist anhand der Idee gestaltet, dass Geissen-Peters Ziegen gesucht werden, die hier auf der Alp frei laufen. Über zwölf Stationen führt der Pfad durch die malerische Kulisse der Berglandschaft auch an echtem Weidevieh vorbei. Bereits die erste lebensgroße Holzziege am Wegesrand bezeugt, wie liebevoll geschnitzt und solide die Elemente angefertigt wurden. Im Gegensatz zum Heidi-Dorf sind wir hier oben meist für uns allein. An jeder Station gilt es, Aufgaben und Rätsel zu lösen, um Buchstaben für ein Lösungswort auf einer Stempelkarte zu sammeln, die an der Talstation mit dem Bergbahnticket ausgehändigt wird.
Auf den saftig grünen Wiesen wachsen Edelweiß, blauer Enzian und allerlei Kräuter, die einen herrlichen Duft verströmen. Der Ausblick reicht weit auf das Rheintal hinab; über die Wipfel dunkler Tannen zum sogenannten "Rhiiblick". Rinnsale und Bächlein werden auf gut befestigten Holzstegen überquert, das schafft man alles auch gut mit Kinderwagen, – nicht zuletzt dank eines gewissen Heinis, wie wir später erfahren werden.
Das Wasser sprudelt reich an diesem Berg und wird an einer der Stationen erfrischend umfunktioniert: Ein Kneippbecken, mit glasklarem Quellwasser angefüllt, speist sich aus dem kleinen Wasserfall, der oberhalb des Areals herabrauscht und lädt nebst Barfußpfad zum Ausprobieren ein. In diesem Moment wünscht man sich, die Zeit möge einfach stehen bleiben. Das lässt sich nicht bewerkstelligen, doch auskosten lässt sich der Moment bei einer Verschnaufpause im Hängemattenwald bestens. Wer möchte, kann Grillgut und Feuerzeug einpacken, denn ganz schweiz-typisch ist auch ein lauschiger Grillplatz vorhanden. Alternativ lässt man sich am Schwarzbuelhüttli bewirten, wo sich wieder Fiktion und Wirklichkeit rund um "Heidi" und ihre Strahlkraft vermischen.
Zwar bereits vom Zeitlichen gesegnet, aber dennoch sehr präsent, ist hier Heini Kilchmann (1922-2008), der die perfekte Vorlage für den Alpöhi hätte geben können. Vielfach wurde er von Besuchern aus aller Welt mit der Figur von Heidis Großvater verwechselt. Rein chronologisch ist das nicht möglich, Schriftstellerin Spyri war bereits zwanzig Jahre vor seiner Geburt verstorben. Kilchmann pflegte den Rundweg, wandelte das verlassene Naturfreundehaus in die bewirtete Wanderhütte um und trug entscheidend zur Entstehung des Heidipfades Ende der 1990er-Jahre bei. Heute heißen dort seine Nachfahren die Gäste willkommen.
Bad Ragaz war aber nicht nur Quelle der Inspiration für Johanna Spyri, hier sprudelt auch Thermalwasser. Wer den Ursprung des Ruhmes dieses Badekurorts in Augenschein nehmen möchte, muss in die Tamina-Schlucht. Hinein darf man nur zu Fuß oder mit dem Postbus. Am alten Bad Pfäfers ist Endhaltestelle. In dem ehemaligen Kloster sind ein Ticketshop und Museum untergebracht. Am Quellschluchteneingang geht es über ein Drehkreuz hinein in die Felsspalte. Im Schluchtenschlund ist es zunächst zugig, duster und laut, die letzten 100 Meter führen durch Bohrtunnel – und es wird mollig warm. Geschützt durch eine dicke Plexiglasscheibe ist eine kleine, halb mit Wasser gefüllte Höhle zu sehen. Kräftig strömt das 36,5 Grad warme Quellwasser mit 8000 Litern pro Minute hinein, nachdem es zehn Jahre durch den Fels auf dem Weg hierher war.
Ein "Schade", entweicht einer Touristin beim Anblick. Man ahnt gleich, was sie meint – schade, dass man hier nicht hineinsteigen kann. Doch das Wasser mit seinem hohen Mineralien-Gehalt wird über Rohre in die Tamina-Therme umgeleitet, und dort kann man unweit der Quelle nach Lust und Laune darin eintauchen.
INFORMATIONEN
> Anfahrt: Im Auto braucht man von Heidelberg knapp vier Stunden reine Fahrtzeit über A8 oder A5 und A3.
> Übernachten: Das Drei-Sterne-Schlosshotel Bad Ragaz ist neben dem Golfplatz gelegen in einem Park mit altem Baubestand. Die Innenstadt ist fußläufig erreichbar, EZ ab CHF 160, DZ ab CHF 240, Familienzimmer ab ca. 171 Euro: www.hotelschlossragaz.ch
> Unternehmen: Das bei Maienfeld gelegene Heidi-Dorf ist vom 14. März bis 2. November, täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Eintritt Erwachsene 16 Euro, Kinder 7,40 Euro, Kinder unter vier Jahren frei: www.heididorf.ch
Bergbahn Pizolbahnen: Info und Fahrplan www.pizol.com
Der Heidi-Pfad Themen-Rundweg über vier Kilometer auf dem Pizol ist rund um die Uhr geöffnet.
Taminaschlucht: Ticket-Automat für die Quellschlucht im Alten Bad Pfäfers: www.taminaschlucht.com
Tamina-Therme: Thermalbad Tagesticket Erwachsene ab 61 Euro, Kinder ab 44 Euro: www.taminatherme.ch
> Weitere Infos: www.heidiland.ch