Genozid an Sinti und Roma

Romani Rose im Gespräch zu 75 Jahren "Auschwitz-Erlass"

Vor 75 Jahren wurde im "Auschwitz-Erlass" die Vernichtung der Sinti und Roma befohlen - Romani Rose erzählt die Geschichten seiner Familie

15.12.2017 UPDATE: 16.12.2017 06:00 Uhr 4 Minuten, 14 Sekunden

Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau heute: Insgesamt 500 000 Sinti und Roma wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Foto: iStockphoto

Von Sören S. Sgries

Heidelberg. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, dann wäre Romani Rose heute nicht einmal ein toter Mann - sondern er wäre nie geboren worden. Doch Rose blickt auf ein erfülltes Leben, hat Kinder, Enkel. Wenn man so möchte, ist der 71-jährige Heidelberger ein lebender Triumph über die Nazis, über SS-Führer Heinrich Himmler und den unbedingten Vernichtungswillen des Dritten Reichs. Denn vor 75 Jahren, am 16. Dezember 1942, wurde die Vernichtung der "Zigeuner", wie es damals hieß, endgültig besiegelt. Im "Auschwitz-Erlass" befahl Himmler die Einweisung der letzten innerhalb des Deutschen Reichs lebenden Sinti und Roma. 500.000 Angehörige der Minderheit fielen diesem Völkermord zum Opfer. Aber eben nicht alle.

Warum wird heute wieder "völkisch" argumentiert, fragt Romani Rose. Foto: A. Müler

Sein "Glück der späten Geburt" ist für Romani Rose, den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, eine Verpflichtung. "Aus heutiger Sicht ist der 16. Dezember 1942 ein schicksalhafter Tag für die Minderheit gewesen", sagt er. Und schiebt dann nach: "Wir haben heute - und ich spreche von der gesamten Gesellschaft - ein historisches Bewusstsein. Aber wir haben keine Vorstellung mehr von dem, was das für den Einzelnen, der damals diese Erfahrungen machen musste, bedeutete." Also erzählt Romani Rose. Sehr offen. Sehr bewegt. Sehr engagiert. Damit man versteht - und sich die Geschichte nicht wiederholt.

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Er erzählt davon, wie der Druck langsam erhöht wurde auf die Minderheit: Seine Großeltern betrieben in Darmstadt ein Kino. "Wir hatten einen großen Bekanntenkreis", sagt Rose. Und als die Nazis an die Macht kamen, "sind auch die Freunde Freunde geblieben". Aber es gab erste Versuche, das Leben der Familie zu erschweren. Schon 1934 wurde gefordert, den Kinobetrieb zu untersagen. Einziger Vorwurf: "Mein Großvater habe ein ,zigeunerisches Aussehen’". Die Reichsfilmkammer gab einer Beschwerde der Roses recht, dass ein "unvorteilhaftes Äußeres eines Volksgenossen" allein kein Grund sein könne, ihm den Broterwerb zu entziehen.

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Später fielen Urteile anders aus, Sinti erlebten - wie auch Juden - systematische Ausgrenzung, Enteignung, Verfolgung. Wie die Angehörigen der Minderheit ausgemacht wurden? Anders als beim Judentum fehlte schließlich die religiöse Zugehörigkeit als "Selektionsmerkmal". "Wir waren integriert", sagt Rose. Die Zugehörigkeit zur Minderheit hielten viele aus Furcht vor Diskriminierung geheim. "Deswegen haben die Nazis Genealogien angelegt, die bis ins 16. Jahrhundert gingen", so Rose. Hilfreich waren die Kirchenbücher - schließlich waren die Sinti Katholiken. "Eheschließungen, Taufscheine - das hat unsere Kirche ganz offen den ,Rassehygienikern’ zur Verfügung gestellt." Auf deren Grundlage wurden "Rassegutachten" erstellt - und die Vernichtung organisiert.

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Er erzählt davon, wie brutal das Schicksal die Familie traf. 13 Familienangehörige, darunter seine Großeltern, wurden von den Nazis ermordet. Besonders stellt Rose aber das Schicksal einer Cousine heraus, die er selbst nie kennenlernen sollte. Seit 1940 war fast die ganze Familie auf der Flucht durch Europa, um der Deportation zu entgehen. Mit falschen Papieren, zuletzt getarnt als Schausteller-Truppe, die im "Kraft durch Freude"-Programm die Wehrmacht an der Ostfront erfreuen sollte. In Schwerin wurden dann Roses Onkel, dessen Frau und die zweijährige Cousine verhaftet. Der Mann kam nach Auschwitz. Doch mit einer List konnten Frau und Kind entkommen. Um das Mädchen zu schützen, gab die Mutter es weg - in eine Familie, von der sie hoffte, dass sie nicht deportiert werden würde. Ein verhängnisvoller Fehler.

"Einige Monate später kam ein Transport mit Sinti und Juden nach Auschwitz", erzählt Rose. "Vom Zigeunerlager konnten sie direkt auf die Rampe gucken. Mein Onkel hat gesehen, wie seine Tochter bei einer anderen Frau auf dem Arm war. Diese Menschen wurden direkt ins Gas geschickt."

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Er erzählt von der verzweifelten Suche nach Unterstützung - etwa bei der Kirche. 1943 ging sein Vater, Oskar Rose, einer der letzten der Familie, die noch in Freiheit und auf der Flucht waren, nach München. Bei Michael Kardinal von Faulhaber wollte er vorsprechen. Vorgelassen wurde Rose nicht. Im Gespräch mit dem Sekretär des Kardinals überkam ihn ein mulmiges Gefühl, berichtet sein Sohn. "Fluchtartig" habe er das Münchner Palais verlassen. Später sei in den Tagebüchern Faulhabers ein Eintrag gefunden worden: Ein Zigeuner mit dem Namen Alexander Adler - so Oskar Roses Tarnname - habe für die "14.000 Zigeuner", die "Brüder im Glauben" seien und in Auschwitz umgebracht und sterilisiert würden, um Beistand gebeten. Faulhaber habe notiert: "Können keine Hilfe geben", so Rose.

Ob das das Vertrauen in die Kirche, in Gott erschüttert hat? "Nein", sagt Rose. "Mein Vater hat nie seinen Glauben infrage stellen lassen. Er hat das immer als menschliches christliches Versagen wahrgenommen." Zumal es einzelne Geistliche gegeben habe, vor allem auf den unteren Hierarchie-Ebenen, die ihm immer hilfreich zur Seite standen. "Das hat er ihnen nie vergessen."

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Und schließlich erzählt er von der spektakulären Flucht seines Onkels Vinzenz Rose aus dem KZ Neckarelz, in dem Zwangsarbeiter für Daimler-Benz schuften mussten. Sein Vater Oskar, so berichtet es Romani Rose, hatte in Heidelberg einen Unterschlupf gefunden, bei einer Försterwitwe am Klingenteich. "Er hat gemerkt, dass er sich ihr offenbaren konnte", sagt Rose. Gemeinsam hätten sie das KZ ausgespäht und einen Befreiungsplan ausgeheckt. Mit Hilfe eines Lastwagenfahrers gelang es, den Onkel unter dem LKW-Sitz aus dem KZ zu schmuggeln. Er entkam - und überlebte.

"Wir Kinder haben das als Abenteuer empfunden", sagt Rose. "Hinterher habe ich erst gemerkt, was für Demütigungen und Erniedrigungen meiner Familien angetan wurden. Mein Vater ist immer mit Schuldgefühlen rumgelaufen und hat darunter gelitten, dass er überlebt hat. Er hat sich Vorwürfe gemacht, dass er seine Eltern im Stich gelassen hat."

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Man könnte meinen, dass es Geschichten aus einer fernen Vergangenheit sind. 75 Jahre nach dem "Auschwitz-Erlass" sind auch 72 Jahre nach Kriegsende, 68 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik. Eine demokratische Erfolgsgeschichte. Doch für Romani Rose ist das Ende der Geschichte noch nicht erreicht. Im Gegenteil: "Der innere Frieden in unserer Gesellschaft wird angegriffen, wenn wir jetzt wieder über völkische Fragen, über Blut und Boden, über Abstammung sprechen", warnt er. Die Erfolge der Rechtspopulisten in Deutschland, in Europa beunruhigen ihn zutiefst. "Ein Nationalismus, der Sündenböcke sucht, der führt uns zurück in die Vergangenheit", sagt er. Die Situation der Minderheiten im Land, seiner Minderheit, sei ein guter Gradmesser für den Zustand der Gesellschaft, ist er überzeugt.

Was ihn aktuell empört: Der "Spiegel" berichtete über eine Diebes-Bande, nennt sie eine "Roma-Bande". "Wir alle haben doch eine Staatsbürgerschaft", beklagt sich Rose. "Warum werden bei uns Vorwürfe mit der Abstammung verbunden?" Wenn Einbrecher - wie in diesem Fall - aus Kroatien nach Deutschland geschickt werden, dann sollte man das so schreiben. Und nicht "in vorauseilendem Gehorsam" die Arbeit der Rechtspopulisten übernehmen und "völkisch" argumentieren.

Also: Rose blickt besorgt in die Zukunft. Aber er hat auch ein klares Ziel: "Raus aus der Ecke des Opfers, rein in die Mitte der Gesellschaft", gibt er als Kurs für die Sinti und Roma im Land an.