Von Sören S. Sgries
Stuttgart/Fellbach. Der Kontrast ist brutal. "Bleiben wir frei. Denken wir groß", prangte am 6. Januar 2020 als Motto über der Bühne in der Stuttgarter Oper. Dazu der Blick in eine verheißungsvoll leuchtende Sternen-Landschaft. Der Weltraum. Unendliche Weiten. Und davor ein FDP-Parteichef, der von einem goldenen Jahrzehnt träumt, mit "allen Chancen, es besser zu machen". Der für seine Partei neue Wählerschichten erschließen will. "Wir gehen vor die Werktore!", ruft Christian Lindner – und Hunderte im Saal jubeln ihm zu. Sars-CoV-2 ist damals ein Virus im fernen China, ein lokales Problem, scheint keiner Erwähnung wert.
Wie die Szenerie 2021 aussieht? Lindner ist da. Lindner ist in der Oper. "Auch wenn in Zeiten von Corona alles anders ist: Das lassen wir uns nicht nehmen", hatte vorab Judith Skudelny, die Generalsekretärin der Südwest-FDP, das traditionelle Dreikönigstreffen eröffnet. Dieses sei schließlich "ein Leuchtturm deutscher demokratischer Demokratiegeschichte", erstmals abgehalten 1866.
Und doch ist 2021 natürlich alles anders. Lindner steht vor dunklen, leeren Rängen. All die Parteifreunde, Honoratioren, Ehrengäste, die er sonst persönlich begrüßen durfte – sie sitzen jetzt zuhause vor dem kleinen Bildschirm. Stattdessen werden auf die leeren, unbeleuchteten Sitzreihen ein paar Schlagworte projiziert: Mut. Freiheit. Verantwortung. Weltoffenheit. Im Foyer tobt nicht das Leben, trifft man sich nicht an der Garderobe, drängelt sich nicht durch die engen Türen. Es herrscht gähnende Leere.
"Ein ungewöhnliches Bild und vielleicht finden es manche von Ihnen auch verstörend", steigt Christian Lindner um 11.38 Uhr in seine Rede ein. Rund 40 Minuten wird sie dauern – und sich die meiste Zeit um die Pandemie drehen.
Diese sei eine Bedrohung, stellt der Liberale unmissverständlich klar. "Es führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen weiter Kontakte beschränken, Abstand halten." Auch wirbt er recht deutlich dafür, sich impfen zu lassen – das sei für die Gesellschaft insgesamt "eine Freiheitsfrage". Allerdings hinterfragt er, warum viele Dinge nicht schon früher umgesetzt worden seien. Die Bereitstellung kostenloser Masken beispielsweise. Eine ausgereifte Schnelltest-Strategie. Besserer Schutz der vulnerablen Gruppen, der Betagten und Hochbetagten. "Politikversagen mit Ankündigung" attestiert er der Bundesregierung.
Auch die aktuellen Lockdown-Verschärfungen können vor seinem Urteil nicht bestehen. "Vielfach nicht verhältnismäßig, aber auch nicht praxistauglich" seien diese, so Lindner. "Nicht jeder Zweck heiligt alle Mittel", kritisiert er. Und sieht aktuell insbesondere Kinder und Jugendliche als Leidtragende. Er fürchtet "Tragödien" in Familien. Wichtig seien Perspektiven, ein regionalisiertes Krisenmanagement. Die Leute müssten wissen: "Wenn Situation X, dann gilt Maßnahme Y." Bisher sei die deutsche Politik vor allem stark darin gewesen "Opfer zu verlangen".
Allein im Rückblick, in der Regierungsschelte verharrt Lindner allerdings nicht. Raum für ein bisschen "Denken wir groß" bleibt dann doch. "Deutschland steht nach der Pandemie vor einer Neugründung", so seine Voraussage. Diese Chance gelte es zu nutzen. Aktuell sei das Land nämlich keineswegs ein "fortschrittfreundliches" – auch wenn mit Biontech eine Mainzer Firma den ersten Corona-Impfstoff auf den Markt gebracht habe. "Geben wir uns nicht der Illusion hin, dass diese Erfolgsgeschichte repräsentativ für unser Land wäre", so Lindner. "Die Talente der Welt kommen nicht zuerst nach Deutschland." Alltagsrassismus beklagt er, Einschränkungen der Forschungsfreiheit, ein ungerechtes Bildungssystem, fehlende Betreuungsmöglichkeiten – worunter besonders Frauen litten.
Wer das ändern kann? Natürlich die Freien Demokraten, so die Botschaft des 42-Jährigen. "Wir sind bereit zur Übernahme von Verantwortung", ruft er in die Oper und ins Internet. "Wir haben Lust auf Gestaltung."
Wie der Applaus bei gefüllten Rängen ausgefallen wäre? Es lässt sich schwer mutmaßen. Schlechte Umfragewerte bei nur noch sechs Prozent, das Thüringen-Debakel mit einem Kurzzeit-Ministerpräsidenten durch Stimmen der AfD, eine etwas flegelhaft-chauvinistische Verabschiedung der Generalsekretärin Linda Teuteberg im September – die Partei steht alles andere als glänzend da.
Anruf bei Valentin Abel auf der heimischen Couch. "Ich bin seit sechs Jahren bei jedem Dreikönigstreffen dabei gewesen. Ich fand Christian Lindner besser als sonst", schwärmt der Vorsitzende der "Jungen Liberalen" vom Parteichef. Wie dieser den Spagat zwischen Pandemiebekämpfung und Verteidigung der Freiheitsrechte hingekommen habe: "sehr gut". 2021 werde "das Jahr, in dem wir raus aus der Oppositionsrolle und rein in Regierungsverantwortung wollen", so für Abel die Kernbotschaft. Ähnlich sieht es Jens Brandenburg, FDP-Bundestagsabgeordneter aus dem Rhein-Neckar-Kreis. Bei den Jamaika-Verhandlungen habe man gezeigt, "dass wir uns inhaltlich nicht über den Tisch ziehen lassen". Jetzt gelte aber auch: "Es wird keine Verhandlung an irgendeinem Komma scheitern."
Das ist auch der Grundton, mit dem die Südwest-Liberalen sich am Vortag zum halb-digitalen Landesparteitag versammelt hatten. "Es wäre mit Sicherheit für uns das leichteste, mit der CDU einen Koalitionsvertrag zu schließen", hatte Landtags-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke gesagt. Da die Umfragen das derzeit allerdings nicht hergeben, ist man durchaus auch zu einem Dreierbündnis mit Grünen und SPD ("Ampel") oder mit CDU und SPD ("Deutschlandkoalition") bereit. FDP-Landeschef Michael Theurer geht den schwarzen Wunschpartner unbeschadet dessen hart an: "Die CDU als Regierungspartei in Baden-Württemberg ist ein Totalausfall."