"Willst du ’ne Cowboy-Schorle?": Dieter Rinker (l.) in seinem Wildwest-Zelt. Foto: O. Willikonsky
Von Christine Frischke
Stuttgart. Zwei Männer braucht Jürgen Kaufmann, um sich fürs Volksfest zurechtzumachen. Einer zieht ihm die Lederhose hoch, der andere hilft ihm ins blau-weiß karierte Hemd. Minutenlang kämpfen die Männer mit seinen ungelenken Gliedern. Kaufmann drückt der Kopf, er schwitzt, sieht kaum was - "und ständig bleibe ich mit den Ohren irgendwo hängen". Die meisten Besucher des Cannstatter Volksfestes wissen nicht, wie Jürgen Kaufmann aussieht. Sie kennen nur sein Alter Ego, den Wasenhasi. Seit mehr als zehn Jahren schlüpft er in die Rolle des Wasen-Maskottchens.
Als drei Meter großes Plüschtier mit Dauergrinsen winkt er Touristen von der Fruchtsäule aus zu, teilt Umarmungen aus und posiert für ein Selfie. Die wenigsten Besucher werden auch wissen, wohin der Wasenhasi nach Dienstschluss verschwindet. Er biegt dann ab zwischen "Grandls Hofbräu Zelt" und "Wilhelmer’s Schwabenwelt", läuft eine Mauer entlang und schlüpft nach wenigen Metern durch das Gittertor einer Einfahrt. Willkommen auf dem "Campingplatz Cannstatter Wasen" - näher kann man nicht am Volksfest wohnen.
Im Moment liegt der XXL-Hasen-Kopf in einem abgedunkelten Büroraum auf einer Couch. Ohne Verkleidung ist Kaufmann ein freundlich dreinschauender Mann mit gestutztem weißen Bart, 64 Jahre alt, in Janker und Lederhose. Er hat sich hierher zurückgezogen, um seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen. Kaufmann ist Chef des Campingplatzes. Seit mehr als 30 Jahren macht er den Rummel schon mit. Da erlebt man so einiges, selbst wenn nebenan nicht gerade das zweitgrößte Volksfest Deutschlands tobt.
Eine Frau brachte auf dem Stuttgarter Campingplatz ihr Kind zur Welt, weil es nicht mehr ins Krankenhaus reichte. Einmal büxten Zirkuspferde aus und trampelten durch die Wohnwagenreihen. DJ Ötzi und Roberto Blanco parken bei Kaufmann, wenn sie in einem der Festzelte auftreten, erzählt er. Die Kelly Family soll hier gewohnt haben, als sie noch als Straßenmusiker herumzogen, einige Jahre vor Kaufmanns Zeit.
Jürgen Kaufmann: "Wasenhasi" und Campingplatzchef. Foto: O. Willikonsky
Nie ist es auf dem Gelände direkt am Neckar so voll wie während des Volksfestes. "Ich könnte den Platz zehnmal vermieten", sagt Kaufmann. Bedienungen und Schausteller beanspruchen gut die Hälfte der Stellflächen. Um den Rest konkurrieren Touristen aus Italien, Franzosen, Niederländer, Schweizer und Deutsche aus allen Teilen des Landes.
Wer auf den Campingplatz will, muss erst mal an Mükremin vorbei. Der 27-Jährige bewacht mit neongelber Weste die Einfahrt. Er hat gerade seine Ausbildung abgeschlossen und spart fürs Studium. "Eigentlich wollte ich ja im Bierzelt arbeiten, aber der Job ist auch okay." Meist streitet er sich mit Autofahrern, die ohne Zutrittsbändchen parken wollen. Oder er muss Betrunkene abwimmeln, die pinkeln wollen. "Ein Mädchen hat sogar geweint, so dringend musste sie." Da habe er ausnahmsweise ein Auge zugedrückt.
Eben hat er Beate Dosch und Daniela Häßler mit ihrem Wohnmobil passieren lassen. Die beiden Schwestern aus Aschaffenburg stehen etwas ratlos auf dem Platz. "Wissen Sie, wie wir an Strom kommen?" Eigentlich wollten sie längst schunkelnd im Zelt sitzen. "Wir mögen den Wasen", sagt Dosch. "Hier ist es viel unkomplizierter als auf dem Oktoberfest."
Auch Kathrin hat bei ihren Arbeitskollegen fürs Volksfest geworben. Zu viert sind sie von Bielefeld 500 Kilometer nach Stuttgart gefahren. In der Fahrerkabine ihres Wohnmobils schwebt ein Einhorn-Luftballon. "Wir mögen es, weil es kleiner und überschaubarer ist als in München, irgendwie familiärer", sagt sie. Ein paar Stellplätze weiter sind Michael Seitz und seine Frau Silke aus Villingen-Schwenningen in ihre Tracht geschlüpft. "Einen besseren Platz gibt es nicht, der Nachhauseweg ist kurz", sagt er.
"Irgendwie familiärer" als in München: Arbeitskollegen aus Bielefeld. Foto: O. Willikonsky
Einige Camper begrüßt Kaufmann persönlich. "Willst du ’ne Cowboy-Schorle?", fragt Dieter Rinker, als der Campingplatz-Chef in sein Zelt tritt. Er meint damit Whisky-Cola. Rinker, 74, ist Vorsitzender des Countryclubs "Weisser Büffel" und campiert seit Jahren während des Volksfestes auf dem Platz. Er steht hinter einer kleinen Bar, über der ein Schild mit der Aufschrift "Saloon" hängt. Sein Zelt ist mit Teppichen ausgelegt, amerikanische Flaggen bedecken die Wände, über einem Feldbett starrt ein Wildschweinkopf herab. Wenn Rinker nicht gerade drüben in einem der Festzelte hockt, bewirtet er hier Freunde. "Abends ist es immer rappelvoll", sagt er.
Country und Wasen, passt das zusammen? Kaufmann zuckt mit den Schultern. Auf seinem Campingplatz ist jeder willkommen, der sich an ein paar Regeln hält. "Wir freuen uns jedes Jahr aufs Fest, aber nach einem Tag haben wir die Schnauze meist voll." Dann musste wieder mal die Polizei anrücken, um eine Schlägerei zu schlichten - oder einen Betrunkenen aus einem fremden Wohnwagen zu zerren. Als sich ein Liebespärchen direkt vor Kaufmanns Büro vergnügte, verpasste ihm der Platzwart eine Abkühlung mit dem Wasserschlauch.
Der Chef seufzt. "Seit ich hier bin, rede ich jedes Jahr vom Aufhören und mache dann doch weiter." Wenn er mal abtauchen will, hat er ja noch das Hasen-Kostüm. "Das Gute am Wasenhasi ist ja, der lacht einfach immer."