Von Sören S. Sgries
Tübingen/Heidelberg. Wer wissen will, wie der Südwesten klingt, der ist in Tübingen an der richtigen Adresse: Seit Jahrzehnten werden dort die Dialekte Baden-Württembergs gesammelt, gespeichert und erforscht. Derzeit arbeitet das Team um Hubert Klausmann (61), Kulturwissenschaftler und Leiter der Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwestdeutschland, an der Komplettierung eines "Sprechenden Sprachatlas", der künftig online abrufbar sein soll. (Hier gibt es bereits eine Vorabversion.) Noch kann man vor allem ins Schwäbische abtauchen - passend zur Schwaben-Ausstellung im Landesmuseum in Stuttgart.
Prof. Klausmann, in Mannheim sagt man "Muus", in Stuttgart "Gsälz", meint aber immer "Marmelade": Haben wir eine ganz besondere Sprachvielfalt im Südwesten?
Der Kulturwissenschaftler Hubert Klausmann ist der Leiter der Tübinger Arbeitsstelle Sprache. Foto: privat
Richtig ist, dass wir bei der Wortgeografie eine ganz große Vielfalt haben. Jeder Begriff hat eine ganz andere Bezeichnungslandschaft - die Kartoffel anders als die Johannisbeere. Mal steht Mannheim mit Bruchsal zusammen, mal mit Heidelberg oder hessischen Gebieten. Wir Dialektologen schauen darum nach gleichen Lauten, anhand derer wir die Landschaft in größere Räumen aufteilen, die weit über die Verteilung einzelner Wörter hinausgehen.
Wie viele Dialekträume sehen Sie denn im Südwesten?
Grob zusammengefasst sind es vier. Im Raum Heidelberg-Mannheim haben wir eine Region, die eigentlich noch zum Mitteldeutschen gehört. Ein Indiz: Hier wird nicht "Pfosten", sondern "Posten" gesagt, das "f" wird nicht mitgesprochen. Ansonsten haben wir die oberdeutschen Dialekte: die fränkischen im Norden, die alemannischen im Südwesten und das Schwäbische im Südosten. Alle kann man noch weiter unterteilen.
Sind es recht scharfe, stabile Grenzen, oder gibt es Verdrängungsbewegungen?
Wir haben Übergangsbereiche - sehr ausgeprägt zum Beispiel im Bereich Pforzheim und Heilbronn. Hier haben wir Schwäbisch und Fränkisch gleichzeitig. Aber dieses Gebiet ist trotzdem relativ stabil. Über Jahrhunderte lässt sich diese Vermischung nachweisen. Andernorts gibt es aber auch sehr scharfe Grenzen. Im Bereich Crailsheim und Aalen ändert sich von einem Meter auf den anderen die ganze Sprachlandschaft.
"Wir können alles außer Hochdeutsch", ist der Slogan des Landes. Ist man im Ländle tatsächlich so stolz auf seine Dialekte?
Ja. Das Kurpfälzische - wir zählen das zum Fränkischen -, ist ein Dialekt, der durchaus mit Stolz weiter getragen wird. Ebenso im Raum Hohenlohe: Die Leute legen großen Wert darauf, dass sie keinesfalls "Ostfränkisch" sprechen, wie wir es wissenschaftlich einordnen, sondern Hohenlohisch. Mit Prestige verbunden ist auch das benachbarte Schwäbische, so dass die Dialektgrenzen dort relativ stabil sind, weil hier zwei Gebiete mit positiver Bewertung aufeinander treffen. Ein Dialekt verdrängt immer den anderen, wenn einer von beiden das geringere Prestige hat.
Erfolgreiche Region, stabiler Dialekt: So die Faustformel?
Ich bin mir sicher, dass der wirtschaftliche Erfolg eine große Rolle spielt für das Prestige des Schwäbischen, des Hohenlohischen, des Kurpfälzischen. Das sind wirtschaftlich erfolgreiche Gebiete, das schlägt sich im Selbstbewusstsein nieder. Wenn ich aus einer wenig erfolgreichen Region stamme, verstecke ich meine Herkunft lieber. Das ist bei uns aber nicht der Fall.
Also gibt es im Land gar keine sprachliche Veränderung?
Wo sich wirklich was tut, ist der Bodensee. Hier trifft die schwäbische Industrialisierung bei Friedrichshafen auf ein alemannisches Gebiet. Dort ist ein allmählicher Wandel zu beobachten. Die Leute sagen nicht mehr das alemannische "Huus", sondern das schwäbische "Hous". Aus "Ziit" wird "Zeit" - gesprochen mit "ei". Die Industrie in Friedrichshafen hat sehr viele Leute aus dem schwäbischen Raum geholt, Ravensburg als zentrale Stadt in dem Raum spricht auch Schwäbisch. Das strahlt aus und "zerdrückt" den alemannischen Streifen am Ostufer des Bodensees.
Baden-Württemberg ist Zuwanderungsland. Das müsste doch langfristig zu Sprachvermischung führen, oder etwa nicht?
Wir haben festgestellt, dass die Kinder, spätestens die Enkel, Dialekt können. Sie passen sich an. In Ellwangen gibt es eine große griechische Siedlung - die Kinder sprechen schwäbisch. Auch Grünen-Parteichef Cem Özdemir kann sich durchaus als Schwaben bezeichnen. In städtischer Umgebung ist der Anpassungseffekt schwächer ausgeprägt als auf dem Land, aber er existiert.
In anderen Bundesländern werden staatliche Initiativen benötigt, um Dialekte am Leben zu erhalten. Braucht auch Baden-Württemberg so etwas?
Retten kann man Dialekte nicht per Order oder Verein. Man kann aber die Sprecher schützen und Leute, die keine Ahnung haben, aufklären, was Dialekt sprechen eigentlich bedeutet. Wir müssen weg von dem Vorurteil, das Schwäbisch oder Fränkisch schlechtes Deutsch sei, schlecht für die Rechtschreibung.
Also: Klären Sie auf, werben Sie für den Dialekt!
Viele Leute glauben, wenn man nicht Norddeutsch spricht, spricht man schon Dialekt. Auch vielen Dialektsprechern im Süden wurde das eingebläut. Aber das ist falsch. Dialekte sind kein falsches Hochdeutsch, sondern natürlich gewachsen, während das sogenannte Hochdeutsch ein Kunstprodukt ist. In Süddeutschland haben wir sehr viele Möglichkeiten, zwischen Dialekt und Standardsprache zu variieren. Wir haben vier bis fünf Stufen, in denen wir je nach Gesprächspartner und Situation unseren Dialekt anpassen können. Das ist das Typische unserer Sprachlandschaft. Leute, die von außen kommen, können das nicht richtig beurteilen.
Ist es denn so etwas besonderes, wenn man "weniger" Dialekt sprechen kann?
In der Schweiz beispielsweise spricht man nur Ortsdialekt oder Tagesschau-Deutsch. Zwischenstufen gibt es nicht.
Zumindest früher wurde an Schulen sehr gezielt Dialekt abtrainiert. Noch immer ein Problem?
Früher gab es das, in den 60ern. Damals hat man geglaubt, man müsse allen Kindern Hochdeutsch beibringen, weil es ihnen in der Karriere helfe. Ein Irrweg. Man hat da verkopft von oben versucht, der Sprachlandschaft etwas aufzudrücken, was gar nicht notwendig ist. Bei uns ist Dialekt nicht sozial markiert. Ein Universitätsprofessor oder ein Oberbürgermeister darf Dialekt sprechen, das ist kein sozialer Marker. Das müssten sich auch die Lehrer, die herkommen und keine Ahnung von Dialekt haben, merken. Dialekt geht nicht mit sozialer Abstufung gleich.
Hier geht es zum vorläufigen "Sprechenden Sprachatlas Baden-Württemberg" mit Tonbeispielen.