Der Verfall hinter den Kulissen des Staatstheaters
Gut eine Milliarde Euro soll die Opernsanierung in Stuttgart kosten. Ein Rundgang zeigt, wie dringend der Bedarf ist.

Von Jens Schmitz, RNZ Stuttgart
Stuttgart. "Monitor flackert, sonst OK", steht auf dem staubigen Steuerungspult auf dem Schrank. Von der Bühne einige Stockwerke tiefer klingt gedämpft Mozarts "Figaro", der im Dezember Premiere feiert. Marc-Oliver Hendriks, geschäftsführender Intendant der Württembergischen Staatstheater, spricht gerne von der "Fantasie- und Zaubermaschine Theater". Jetzt steht er im Ersatzteillager und seufzt: "Wir nehmen den Schrott aus Kassel."
"Wir kaufen Sachen aus anderen Theatern auf und lagern sie hier", erklärt Technikdirektor Arno Laudel. "Der Hersteller hat uns vor einigen Jahren die Wartung aufgekündigt, weil die Mitarbeiter alle im Ruhestand sind, die das System kannten, zudem kriegen sie die Anlagenteile nicht mehr." Seither wird aufgekauft, ausgeschlachtet, gehortet.
Hintergrund
> Das Staatstheater Stuttgart besteht aus Oper, Ballett und Schauspiel und bezeichnet sich nach Mitarbeitern und Budget als größtes Mehrspartenhaus weltweit. Es beschäftigt 1400 Menschen aus mehr als 50 Nationen. Alle drei Sparten sind preisgekrönt. Das Musiktheater zählt
> Das Staatstheater Stuttgart besteht aus Oper, Ballett und Schauspiel und bezeichnet sich nach Mitarbeitern und Budget als größtes Mehrspartenhaus weltweit. Es beschäftigt 1400 Menschen aus mehr als 50 Nationen. Alle drei Sparten sind preisgekrönt. Das Musiktheater zählt rund 230.000 Besucher in der Saison, das Staatstheater als Ganzes zwischen 430.000 und gut 450.000. Das Opernhaus verfügt über 1404 Plätze, das benachbarte Schauspielhaus bietet inklusive Kammertheater bis zu 1066 Zuschauern Platz. Mit eigenen Programmen in der Spielstädte "Nord" werden pro Saison etwa 30.000 Kinder und Jugendliche erreicht. jsz
Der klassizistische Bau neben dem Landtag, in dem Musiktheater und Tanz untergebracht sind, macht zurzeit vor allem als Sanierungsfall Schlagzeilen: Die Fantasie- und Zaubermaschine ist in die Jahre gekommen. Mehr als eine Milliarde Euro soll die Renovierung unter Umständen kosten; Stadt und Land müssten sich diesen Betrag hälftig teilen.
Intendant Hendriks weiß um die psychologische Wirkung der Summe. "Aus der Publikumsperspektive kennt man das Vorderhaus", sagt der 49-Jährige. "Da sagt man sich, naja gut, der Teppich ist ein bisschen verfranst und da bröckelt etwas am Stuck, aber eigentlich sieht’s doch noch ganz schön aus." Hendriks führt an Schimmel, Stockflecken und undichten Oberlichtern vorbei: "Wie es hier im Innern aussieht, können die meisten sich gar nicht vorstellen."
Das Staatstheater wurde 1909 bis 1912 von Max Littmann als Doppelspielstätte erbaut. Den Zweiten Weltkrieg überstand nur das Große Haus. Es gibt in Stuttgart wenige so identitätsstiftende Gebäude wie die denkmalgeschützte Oper. 1946 hielt hier US-Außenminister James F. Byrnes 1946 seine "Hoffnungsrede", die Deutschland wieder eine Perspektive eröffnete. Eine Gedenktafel erinnert noch daran. Wenige Meter entfernt klafft in der Vorhalle ein Riss in der Wand: Der Portikus senkt sich zum Landtag hin. Setzungsrisse unter dem Haus lassen Grundwasser eindringen, Leitungen bersten. In der Hydraulik zirkulieren 8000 Liter Öl, ständig muss nachgefüllt werden. "Das Problem ist das, was man nicht sieht", sagt Laudel. Vor einigen Jahren sprudelte plötzlich ein Geysir vor dem Haus. "Das war die Löschleitung."

Durchs Treppenhaus lenkt eine blaue Plastikbahn Regenwasser in eine Tonne; die Aufzugstechnik zum Schnürboden stammt aus den 50er Jahren. Unter dem ungedämmten Kupferdach stützen Metallträger und Holzkeile eine schiefe Wand. "Diese ganzen Provisorien übertragen sich auf unsere Maschinen", sagt Laudel. Der bärtige Technikchef strahlt Gelassenheit aus, wenn er vom Bröseln der Anlagen spricht. Doch er ist durchaus besorgt: Hier krümmt sich auch die Führungsschiene des Eisernen Vorhangs, der das Publikum im Ernstfall vor Feuer schützt. "Das müssen wir immer wieder nachstellen."
Die großzügige Architektur wurde im Lauf der Zeit mit Zwischendecken und Trennwänden verdichtet. "Dieser Raum war mal 4,50 Meter hoch", erklärt Laudel in der Ballettumkleide. "Dann hat man in den 70er Jahren eine Decke eingezogen und wie Legebatterien hier die Ballett-Garderobe reingepackt." Wenn 30 Damen Tutus anhaben, wird es eng.
"Irgendwann kommt das Ganze an einen funktionalen Endpunkt", sagt Hendriks. Der Betrieb bräuchte ein Drittel mehr Nutzfläche, gut 10.000 Quadratmeter.
Die Musikbibliothekare Lisa Nielsson und Stefan Geiß bewältigen die Notenlogistik auf 30 Quadratmetern, inklusive Konzertarchiv. Ein winziges Fenster bietet Ausblick auf Taubendreck und gelegentliche Ratten, erzählen sie. Als Arbeitsfläche bleiben zwei völlig überladene Schreibtische. "Wir müssen immer Häufchen bilden und versuchen, uns so kleinklein zu sortieren", sagt Geiß. "Das ist uns jetzt sogar bescheinigt worden, dass man hier nicht zu zweit arbeiten darf." Vieles wird nur unter dem Aspekt der nahenden Sanierung geduldet. "Das Haus, so wie es da steht, ist nicht genehmigungsfähig", bekräftigt Hendriks.
Nach einer Machbarkeitsstudie kam der Landesbetrieb Vermögen und Bau zu dem Schluss: Ein Neubau, etwa auf dem S-21-Gelände, wäre teurer und würde länger dauern. Das Problem lässt sich vor Ort beheben, wenn das Große Haus entkernt wird und eine moderne Technik mit Kreuzbühne erhält. Der Bau müsste auf einer Seite um 2,50 Meter verbreitert werden. Das Kulissengebäude aus den 60er Jahren hinter dem Opernhaus würde abgerissen und vertieft neu errichtet, das Schauspielhaus von 1962 angebunden.

Das Problem: Dafür brauchen Oper und Ballett eine Ausweichspielstätte. 19 Standorte wurden geprüft. Ende 2018 entschied der Verwaltungsrat, neben der freien Kulturszene an den Wagenhallen in Stuttgart-Nord weiterzuplanen. Ob daraus eine fruchtbare oder erstickende Kultur-Nachbarschaft würde, ist umstritten.
Auch am Originalstandort gibt es Bedenken. Das neue, vergrößerte Kulissengebäude wäre ein massiver Riegel an der B 14 gegenüber der Staatsgalerie. Die Hauptverkehrsachse soll künftig zur großzügigen Kulturmeile umgebaut werden. Abteilungsleiter Tilmann Häcker von Vermögen und Bau zog diesen Monat das Fazit, es gebe "keinerlei städtebaulichen Spielraum." In der Realität besteht also ein hohes Risiko, dass die zusätzliche Fläche aus der Machbarkeitsstudie wieder eingedampft wird. Die sanierte Oper wäre beim Einzug wieder zu eng.
Nun steht eine neue Idee im Raum. An einer alten Zuckerfabrik in Bad Cannstatt betreiben die Staatstheater bereits ein Kulissenlager. In der Nachbarschaft gehört der Stadt ein Grundstück, auf dem die Planer knapp 10.000 Quadratmeter für Werkstätten oder Verwaltung für möglich halten. Das würde in der Innenstadt Spielraum schaffen und den Platzbedarf der Interimslösung gleich mit reduzieren – für Hendriks ein "Befreiungsschlag".
Die Planer betonen, der Preis enthalte großzügige Puffer. Man wolle nicht den Fehler wiederholen, sich mit schöngerechneten Zahlen in ein Jahrhundertprojekt einzuschleichen, sagt Kunstministerin Theresia Bauer (Grüne). Derzeit käme der Umbau auf 550 Millionen Euro. Da noch kein Architektenwettbewerb erfolgt ist, wurden 30 Prozent Risikoaufschlag angesetzt, dazu eine jährliche Baukostensteigerung über 15 Jahre. So kommt es zur Summe von 737 bis 958 Millionen Euro – plus weitere 85 Millionen für den Interimsbau.
Eine Milliarde Euro sind eine Menge Geld, auch über Jahre verteilt. Im Landtag wie im Gemeinderat gibt es Fragen: Wie breit strahlen die Spielstätten ins Land? Haben sie eine Vision für die Zukunft? Wem nutzt die Investition?
Aktuell, erklärt Hendriks, werden die Staatstheater zu 40 Prozent von Stuttgartern besucht. Weitere 40 Prozent stammen aus der Region, 15 Prozent aus dem restlichen Land, insgesamt 450.000 Besuche im Jahr. Bei 600.000 Einwohnern, überschlägt Hendriks, komme "ein Drittel der Stadt Stuttgart hier in dieses Staatstheater." Angesichts tausender Abonnenten, die regelmäßig zu Gast sind, mag das gerade für Stuttgart sehr optimistisch sein. Doch Hendriks ist sicher: "Es geht wirklich um die Breite der Bevölkerung und nicht um eine kleine Elite."
Einen endgültigen Beschluss will der Verwaltungsrat im März fassen, Landtag und Gemeinderat müssen noch zustimmen. "Wenn Sie sich dieses Jahr nicht entscheiden, dann kommen zusätzlich jedes Jahr circa 30 Millionen drauf", warnte Fachmann Häcker kürzlich im Gemeinderat. Oberbürgermeister Fritz Kuhn möchte im ersten Halbjahr 2020 zum Beschluss kommen. "Die Zeit ist reif", findet auch Ministerin Bauer.
Im nussbaumgetäfelten Büro des Geschäftsführers verströmt die Oper noch ehrwürdige Geschichte. "Wir haben hier 1912 etwas geschenkt bekommen, das zuletzt in den 80er Jahren teilsaniert wurde", sagt Hendriks. "Und wir haben schlichtweg diese Investitionen aus der Vergangenheit aufgezehrt." Jetzt gehe es darum, so zu investieren, dass die Funktion gewährleistet bleibt. "Nicht nur für uns und heute, sondern so, dass die zwei oder drei nächsten Generationen auch noch die Chance haben, das zu erfahren."



