"Wir stoßen an unsere Grenzen"
In diesem Jahr kamen schon mehr als 131.000 Menschen ins Land. Kretschmann warnt: Es könnte wieder eine Unterbringung in Sporthallen nötig sein.

Von Roland Muschel, RNZ Stuttgart
Stuttgart/Mannheim. Der Präsident des Städtetags Baden-Württemberg, der Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD), hat derzeit ein kleines und ein ganz großes Platzproblem. Das kleine besteht aus Pappmaschee und steht auf dem Tisch in seinem Besprechungsraum im Mannheimer Rathaus: eine knapp einen Meter lange und einen halben Meter hohe Nachbildung des Wasserturms. Es ist ein selbstgebasteltes Dankeschön eines Geflüchteten aus Syrien – jenem Land, aus dem während der Flüchtlingskrise 2015/15 die meisten Geflüchteten kamen. Nun muss der OB einen Platz finden für das Kunstwerk, das zugleich eine schöne Anerkennung für die Integrationsarbeit der Stadt darstellt.
Kopfzerbrechen bereitet Kurz und seinen Kollegen in den Rathäusern landauf landab aber ein viel größeres Problem: Die Suche nach Platz für die Menschen, die aktuell in Baden-Württemberg Zuflucht und Schutz suchen. Vor allem aus der Ukraine, aber zunehmend auch aus anderen Ländern.
Dank einer großen Gemeinschaftsleistung und eines großen Engagements der Bevölkerung funktioniere die Aufnahme bislang bemerkenswert gut, sagt Kurz. "Aber", mahnt er im Gespräch mit dieser Zeitung, "wir stehen noch vor erheblichen Herausforderungen." So seien viele Geflüchtete aus der Ukraine in Unterkünften wie Hotels untergebracht, "in denen sie nicht dauerhaft bleiben können". Dabei würden die großen Städte dem Bedarf bereits hinterherbauen, da Bund und Land ihren Zielsetzungen beim Wohnungsbau schon lange nicht gerecht würden.
Nicht nur die für die Anschlussunterbringung zuständigen Kommunen haben ein Problem mit der Unterbringung. Auch das Land als Betreiber der Landeserstaufnahmeeinrichtungen(LEA) und die Stadt- und Landkreise, die die vorläufige Unterbringung stemmen müssen, stoßen an Kapazitätsgrenzen. Mehr als 131.500 Menschen sind in diesem Jahr bereits nach Baden-Württemberg geflüchtet: Rund 116.500 Geflüchtete aus der Ukraine und 15.000 Asylsuchende aus anderen Ländern. Die Zugangszahlen steigen dabei wöchentlich. Derzeit seien die LEA "voll belegt", vermeldet das zuständige Ministerium für Justiz und Migration.
Deshalb versucht nun auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Bevölkerung für das Thema und mögliche Folgen – etwa für den Schulsport – zu sensibilisieren. "Wir haben bereits jetzt mehr Geflüchtete als in der Flüchtlingskrise 2015", ordnet Kretschmann die Zahlen im Gespräch mit dieser Zeitung ein. Ein Ende des Anstiegs sei dabei nicht in Sicht. "Es ist leider so, dass wir davon ausgehen müssen, dass dieser Krieg so schnell nicht zu Ende ist."
Auch Kretschmann lobt die Unterstützung und den Rückhalt der Bevölkerung. "Das ist ein großes Pfund. Denn wir brauchen im Konflikt mit Putin einen langen Atem." Zugleich will der Grünen-Politiker die Probleme nicht verhehlen: "Wir stoßen bei der Unterbringung immer mehr an unsere Grenzen." Und das, obwohl sich die Kommunen extrem stark bemühen würden, den nötigen Raum zur Verfügung zu stellen, wofür er ihnen sehr dankbar sei.
"Die Bevölkerung muss sich darauf gefasst machen, dass wir da wieder in schwierige Situationen kommen", so Kretschmann. "Wir tun natürlich alles, um rasch zusätzliche Flüchtlingsunterkünfte zu schaffen. Aber wir können nicht ausschließen, dass wir in eine Lage kommen, in der wir wieder Hallen brauchen. Es wäre nach der Pandemie natürlich dramatisch, wenn wieder Sport ausfallen müsste."
Auf mögliche Auswirkungen auf den Schulsport haben die Kommunalen Landesverbände den Württembergischen Sportbund intern bereits am Wochenende hingewiesen. "Verschiedene Landkreise sind bereits dazu übergegangen, die Belegung von Sporthallen vorzubereiten und umzusetzen", berichtet der Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg, Alexis v. Komorowski. Dabei haben die Stadt- und Landkreise ihre Kapazitäten binnen eines Jahres bereits in etwa verdoppelt – wie auch das Land selbst. Aktuell werden weitere rund 1000 Unterbringungsplätze durch Container-Häuser in der Landeserstaufnahmestelle Freiburg (160 Plätze) und die Inbetriebnahme einer Notunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt in Freiburg (bis zu 800 Plätze) geschaffen. "Die Akquise neuer Unterkünfte wird rein faktisch immer schwieriger", warnt Justiz- und Migrationsministerin Marion Gentges (CDU).
Die steigenden Zugangszahlen schreiben Gentges und der Präsident des Landkreistags, Joachim Walter (CDU), auch der von der Bundesregierung getroffenen Regelung zu, wonach Geflüchtete aus der Ukraine aufgrund eines anderen Rechtsstatus‘ höhere Sozialleistungen erhalten als Asylbewerber. "Zunehmend kommen Menschen zu uns, die aus der Ukraine stammen und die bereits in anderen europäischen Ländern angelangt waren", berichtet Walter. Die Anziehungskraft der "im europäischen Vergleich höchsten Sozialleistungen" mache alle Versuche einer gleichmäßigen Verteilung von Geflüchteten in Europa zunichte. Der Bund müsse diese "falsche Weichenstellung" daher dringend korrigieren.



