Wie guter Fernunterricht funktionieren kann
Bildungsforscher Benjamin Fauth über guten Fernunterricht, drohende Quarantäne und die Frage, was Lehrer nun tun sollten - "Es geht darum, das Lernen zu lernen"

Von Axel Habermehl, RNZ Stuttgart
Stuttgart. Die Politik hat sich festgelegt: Anders als zu Beginn der Corona-Pandemie sollen die Schulen während der "Zweiten Welle" geöffnet bleiben. Phasen des Fernunterrichts gibt es trotzdem flächendeckend. Immer wieder müssen Schüler, bisweilen ganze Klassen, in Quarantäne und zuhause lernen. Bildungsforscher Benjamin Fauth (38) forscht am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) in Stuttgart. Er leitet dort die Abteilung "Empirische Bildungsforschung". Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung der Universität Tübingen.

Herr Fauth, die Politik will die Schulen trotz Pandemie unbedingt offenhalten. Ist Fernunterricht wirklich so schlecht wie sein Ruf?
Weiß ich gar nicht. Natürlich kann der Fernunterricht die Schule als sozialen Raum nicht ersetzen. Aber die Frage ist doch: Wie kann man Fernunterricht so gestalten, dass er gut und wirksam ist. Und ich glaube, jetzt, wo die meisten Schulen geöffnet sind, sollten sie sich darauf vorbereiten. So eine Quarantäne kann ja von jetzt auf gleich für einzelne Klassen angeordnet werden.
Was genau sollten Lehrer also tun?
Ich denke, es macht Sinn, sich Gedanken darüber zu machen, worum es eigentlich geht. Worum geht es beim normalen Präsenzunterricht? Wer das für sich beantwortet, kann besser abschätzen, worum es beim Fernunterricht gehen muss.
Nämlich worum?
Die empirische Forschung zeigt, dass es nicht so sehr um sogenannte Sichtstrukturen geht, also um Dinge an der Oberfläche, wie Sitzordnung, Frontalunterricht oder Gruppenarbeit, sondern um Tiefenstrukturen. Wie sind die einzelnen Lehr- und Lernprozesse gestaltet? Und da stellt sich die Frage: Worauf kommt es bei diesen Tiefenstrukturen an?
Worauf kommt es denn an?
Es geht um drei Grunddimensionen: Erstens müssen Schüler zum Nachdenken über zentrale Unterrichtsinhalte herausgefordert werden. Zweitens geht es um Unterstützung durch die Lehrkraft – kognitiv, was den Stoff angeht, aber auch emotional. Das dürfte in Corona-Zeiten besonders wichtig sein. Die dritte Dimension ist Klassenführung.
Wie führt man Klassen, die nicht mehr zusammenkommen?
Bei der Klassenführung geht es um die Frage: Wie gibt man Unterricht so Struktur und Ordnung, dass Lernzeit gut genutzt wird. Auf das Fernlernen übertragen, geht es um Selbstregulation. Schüler müssen lernen, sich zu organisieren, ihren Lerntag zu strukturieren, sich selbst beim Lernen zu beobachten. Das kann man üben.
Wenn Schüler alleine am Laptop lernen, sind Ablenkungen doch programmiert.
Natürlich. Aber Selbstregulation kann und sollte ohnehin jeder trainieren. Wie richte ich meinen Arbeitsplatz ein? Wie gehe ich mit Störungen um? Was mache ich mit meinem Handy und meinem Instagram-Account, wenn ich arbeite? Letztlich geht es darum, das Lernen zu lernen.
Klingt kompliziert.
Man muss Schüler natürlich unterstützen. An einer Gemeinschaftsschule in Durmersheim, die auch den Deutschen Schulpreis gewonnen hat, wurden zum Beispiel am Anfang und Ende jedes Tags kleine Videokonferenzen gemacht. Da ging es nicht um Stoffvermittlung, sondern um Markierung des Lerntags. Wie ein virtueller Gong.
Videokonferenzen sind in der öffentlichen Debatte ein großes Thema. Wie wichtig ist Technik wirklich?
Sehr wichtig. Aber wichtiger ist die Frage: Was machen wir mit all den Laptops und Tablets, die jetzt gekauft werden. Zum Beispiel ist Feedback wahnsinnig wichtig für Lernprozesse. Beim Fernlernen ist das wegen der Distanz ein Problem. Wenn der Lehrer mit dem Fahrrad rumfährt und neue Aufgaben und Feedback bringt, ist das toll. Aber weil das natürlich nicht immer möglich ist, können neue Medien genau hier helfen – etwa mit Apps, die Lernstände dokumentieren und Ergebnisse rückmelden.
Schüler haben zuhause unterschiedliche Ressourcen: Technik, Ruhe, ein Arbeitszimmer, familiäre Hilfe. Ist Fernunterricht ungerechter als normale Schule?
Das Risiko besteht auf jeden Fall. Unterschiedliche Schüler brauchen unterschiedlich viel Unterstützung. Wenn Fernlernen heißt, dass es weniger Unterstützung gibt, hat das natürlich eine soziale Komponente. Manche Eltern können ihr Kind viel besser fördern als andere. Aber auch hier geht es letztlich um Fragen der Qualität des schulischen Angebots. Gut gemachte Schule hat immer den Anspruch, soziale Disparitäten zu verringern.
Sie sind selbst Vater. Wie haben Sie als Theoretiker die Praxis des Fernunterrichts erlebt?
Die Klasse meiner Tochter wurde neulich von einem Tag auf den anderen für zwei Wochen in Quarantäne geschickt. Da habe ich viel gelernt – auch Demut. Ich beschäftige mich seit Jahren wissenschaftlich mit Unterrichtsqualität und Lernprozessen, ohne selbst eine Lehramts-Ausbildung zu haben. Oliver Welke hat in der "Heute Show" mal gesagt, es dämmere jetzt Millionen Eltern, dass Lehrer tatsächlich ein richtiger Beruf ist. Das wusste ich natürlich vorher schon. Aber meine Bewunderung für das, was Lehrkräfte jeden Tag leisten ist auch nicht geringer geworden.
Vielen Eltern dämmert beim Home-Schooling: Lehrer ist wohl doch ein richtiger Beruf!
— ZDF heute-show (@heuteshow) March 23, 2020
Die ganze #heuteshow vom Freitag: https://t.co/t4FFq1xRhT pic.twitter.com/NKZMVnSVhb
Hintergrund
Von Anica Edinger
Heidelberg. Mit sinkenden Temperaturen und erhöhtem Infektionsaufkommen rückt auch die Möglichkeit flächendeckender Schulschließungen wieder in greifbare
Von Anica Edinger
Heidelberg. Mit sinkenden Temperaturen und erhöhtem Infektionsaufkommen rückt auch die Möglichkeit flächendeckender Schulschließungen wieder in greifbare Nähe. Sind die Schulen vorbereitet, wenn es wirklich erneut so weit kommt? Die Heidelberger Johannes-Gutenberg-Schule (JGS) hat sich diese Frage gestellt – und jetzt für den Ernstfall geprobt: Am Freitag blieben weit über 400 der insgesamt 1500 Schülerinnen und Schüler der gewerblichen und landwirtschaftlichen Berufsschule im Wieblinger Weg zuhause – und wurden fernunterrichtet.
Lediglich diejenigen, die praktischen Unterricht hatten – etwa in der Metall-, der Holz- oder der Druckwerkstatt –, oder diejenigen, die kommende Woche Meisterprüfung haben, hatten Präsenzunterricht. Dazu kam eine kleinere Zahl an Schülerinnen und Schülern, die besondere Unterstützung benötigen, etwa Jugendliche aus den Flüchtlingsklassen oder auch aus Klassen der Berufsorientierung. Wie lief der Selbstversuch Schul-Lockdown? Die RNZ sprach mit der Schulleitung, einem Lehrer und der Schülersprecherin.
> Die Ausgangssituation: Schon am Morgen meldete sich Schulleiter Martin Schmidt bei der RNZ – mit erfreulichen Nachrichten: "452 Schülerinnen und Schüler haben sich aufgeschaltet. Ich bin begeistert." Dazu etwa rund 30 Lehrerinnen und Lehrer, die von zuhause und vom Schulgebäude aus unterrichteten. Die JGS arbeitet mit "Microsoft Teams" – und das lief bis zum frühen Vormittag dem Schulleiter zufolge stabil. Er erklärte, was hinter der Aktion steckt: "Wir wollen vorbereitet sein, wenn es zu Schulschließungen kommt." Sein Stellvertreter Johannes Laule ergänzt: "Damit wir im Fall der Fälle nicht wieder so überrascht werden wie im März." Im letzten halben Jahr habe das EDV-Team auch deshalb gemeinsam mit der städtischen Schul-IT unter Hochdruck an der Verbesserung der Bedingungen fürs Heimlernen gearbeitet. "Jetzt ernten sie die Früchte ihrer Arbeit", sagte Schmidt – auch ein wenig stolz.
> Die Vorteile: Schülersprecherin Annika Beyerer, die im zweiten Jahr das Berufskolleg für Grafikdesign an der JGS besucht, freute sich besonders darüber, dass am Freitag "ausnahmsweise", wie sie sagt, einmal alle pünktlich zum Unterricht erschienen sind. Heimunterricht macht es möglich. Sie selbst kommt aus Rauenberg und hat normalerweise einen Schulweg von eineinhalb Stunden – jeweils hin und zurück. "Ich bin da noch in der Mitte. Andere Mitschüler brauchen noch länger", sagt sie. Insofern käme Heimunterricht manchen da schon entgegen. Überhaupt befand die Schülersprecherin: "Das war eine wichtige Aktion und es hat mich gefreut, dass sie gemacht wurde." Sie zieht eine positive Bilanz: Über "Teams" habe man sich auch in Diskussionen per Videokonferenzen gut austauschen können. Ganz im Gegenteil zum ersten Lockdown im Frühjahr. Damals sei der "Unterricht" doch sehr beschränkt gewesen aufs Aufgabenerledigen und anschließend abgeben – per E-Mail und ganz ohne richtigen Lehrerkontakt. "Da habe ich persönlich nicht so viel mitgenommen – und ich hatte das Gefühl, dass einige Mitschüler gänzlich auf der Strecke blieben." Der jetzige Selbstversuch habe gezeigt, dass es anders geht.
Einen großen Anteil daran habe natürlich die Plattform, auf der gearbeitet wird. Mit "Teams" habe man an der JGS eine gute Lösung gefunden, findet auch Schulleiter Schmidt. Gut geklappt hat das Programm auch bei Lehrer Markus Türpe, der am Freitag Fachtheorie für angehende Konditoren und Bäcker gemach hat. Schüler hätten Rückfragen gestellt und sich beteiligt – dadurch habe er gemerkt, dass alle wirklich dabei waren. "Es ist gut gelungen für das erste Mal", sagt Türpe. Und Beyerer berichtet noch: "In Kunstgeschichte hat ein Lehrer als seinen Videohintergrund passend zum Unterrichtsthema eine römische Villa eingeblendet – das war nett."
> Die Probleme: Laut Schülersprecherin Beyerer müsse daran gearbeitet werden, dass Lehrerinnen und Lehrer Dokumente online stellen, die direkt am Computer oder auf dem Tablet bearbeitet werden können. Denn: "Nicht jeder hat einen Drucker." Dementsprechend konnten nicht alle Dokumente ausgedruckt, bearbeitet und zum Korrigieren abfotografiert und wiederum online gestellt werden. Zudem habe es auch Verbindungsprobleme gegeben: "Bei manchen hat die Internetverbindung nicht gut funktioniert", so Beyerer.
Lehrer Türpe berichtet, dass einige zudem keine geeigneten Endgeräte zur Verfügung hatten – und ausschließlich mit dem Handy zugeschaltet waren. Da funktioniere das Lernen natürlich nicht so gut wie mit Tablet oder Laptop. Zudem sagt Türpe: "Wenn man mal Fernunterricht macht, weiß man, was man am Präsenzunterricht hat." Es fehle doch der Augenkontakt zur Klasse, das direkte, auch mimische Feedback, findet der 36-Jährige. "Vorm PC ist das für den Lehrer doch schon sehr leblos." Daran anknüpfend erklärte Laule, dass einige Schülerinnen und Schüler erst gar nicht zugeschaltet waren. "Da müssen wir nun schauen, was die Gründe waren", sagt der stellvertretende Schulleiter.
> Die Evaluation: Über 450 Online-Evaluationsbögen sind bis zum Nachmittag eingegangen – sie werden nun bis etwa Mitte nächster Woche ausgewertet. So wird sich laut Schulleiter Schmidt ganz genau zeigen, wo die Probleme liegen – und dann kann gezielt nachgebessert werden. Bei einer schulinternen Fortbildung übernächste Woche werde das dann Thema sein. Dank der Stadt hat die JGS zudem noch rund 200 Tablets zu verteilen. Wohin diese gehen, könne nach dem Selbstversuch jetzt ausgewertet werden.
Hintergrund
Berlin (dpa) - Mehr als 300.000 Schüler und bis zu 30.000 Lehrer befinden sich derzeit nach Angaben des Deutschen Lehrerverbandes in Quarantäne. Das berichtete die "Bild"-Zeitung.
Die Schulen sollen offen bleiben - darüber herrscht breiter Konsens. Doch wie das gelingen
Berlin (dpa) - Mehr als 300.000 Schüler und bis zu 30.000 Lehrer befinden sich derzeit nach Angaben des Deutschen Lehrerverbandes in Quarantäne. Das berichtete die "Bild"-Zeitung.
Die Schulen sollen offen bleiben - darüber herrscht breiter Konsens. Doch wie das gelingen kann, dazu gehen die Meinungen auseinander. Die Forderungen nach kleineren Klassen und einem Wechsel aus Präsenz- und Fernunterricht bei starkem Infektionsgeschehen werden lauter.
Allerdings gehen die allermeisten Schüler und Lehrer weiter in die Schule. In Deutschland gibt es rund 40.000 Schulen mit insgesamt 11 Millionen Schülern und rund 800.000 Lehrern.
"Wir erleben an den Schulen jetzt einen Salami-Lockdown." Die Politik habe sich zurückgezogen, sagte Lehrerverbands-Präsident Heinz-Peter Meidinger. In der "Passauer Neuen Presse" forderte er, an Schulen Vorsichtsmaßnahmen hochzufahren, wenn die Infektionszahlen exponentiell wachsen. Dazu zähle neben der Maskenpflicht auch die vorübergehende Wiedereinführung der Abstandsregel, was halbierte Klassen und Wechselbetrieb bedeuten würde.
Auch Ilka Hoffmann von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisiert ein "starres Festhalten" am Präsenzunterricht ohne Abstufungen. Stattdessen sollten Klassen halbiert werden und im Wechselunterricht gelernt werden - in Abhängigkeit von regionalen Inzidenzwerten "und nicht egal wie es ist, alle gehen in die Schule und wir kucken mal wie lange es gut geht und wenn nicht, machen wir alles zu".
Von einem hohen Infektionsgeschehen in Schulen und Gesellschaft spricht der Verband Bildung und Erziehung (VBE). "Es ist höchste Zeit, dass sich die Kultusministerien hierzu verhalten und transparente Regelungen aufstellen." Und auch von den Eltern kommt Kritik: "Es ist ein Versagen der Kultusminister, dass es hier an einer klaren Linie fehlt", sagte der Vorsitzende des Bundeselternrats, Stephan Wassmuth, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) zeigte sich Forderungen nach einem Wechselmodell gegenüber skeptisch: Dieses Modell bedeute deutlich weniger Lernstoff und damit weniger Bildung. Auch die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) verteidigte im SWR das Festhalten am Präsenzunterricht: "Wir setzen auf Präsenz und wollen dort, wo ein Infektionsgeschehen auftritt, regional, standortbezogen reagieren, aber nicht im ganzen Bundesland alle 4500 Schulen schließen."
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) warb mit Blick auf die für kommenden Montag geplanten Beratungen von Bund und Ländern für eine positive Sichtweise. Man habe es geschafft, bis hierhin die Schulen offen zu halten. Für den Fall, dass die Infektionszahlen nicht sinken würden, setzten sich alle Länder damit auseinander, was sie tun könnten. "Aber ich denke, wir gehen jetzt erst einmal positiv davon aus, dass die Zahlen sinken werden", betonte sie.
Im Gegensatz zum Frühjahr sind die Schulen vom Teil-Shutdown im November verschont geblieben. Bereits am Dienstag hatte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken angeregt, Modelle, wonach kleinere Gruppen abwechselnd im Präsenz- und im Fernunterricht lernen, flächendeckend einzusetzen. Daneben hatte sich Bundesbildungsministerin Karliczek für eine Ausweitung der Maskenpflicht im Unterricht auch auf Grundschulen ausgesprochen. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zeigte sich am Mittwoch offen für eine Ausweitung der Maskenpflicht an Schulen.
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