Johnson schiebt die Versorgungskrise Corona zu
"Die Regierung hat die Probleme verleugnet". Langfristig könnte er aber profitieren.

Von Daniel Bräuer
Heidelberg/Berlin. Der Politologe Nicolai von Ondarza untersucht bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin die Beziehungen zwischen Großbritannien und er EU.
Herr von Ondarza, Großbritannien geht der Treibstoff aus. Jetzt hilft die Armee aus, um Tankstellen zu beliefern. War das abzusehen?
Das ist schon eine der Folgen, die bei den Prognosen zum Brexit enthalten war: Dass durch den Brexit viele Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten Großbritannien verlassen haben und jetzt fehlen – bei der Auslieferung von Benzin, bei der Ernte oder im Gesundheitssektor. Natürlich kommt erschwerend noch die Corona-Pandemie hinzu.

Was hat Corona dazu beigetragen?
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Zum einen haben viele Arbeitskräfte zusätzlich das Land während der Lockdown-Phase verlassen, um bei ihren Familien zu leben, und sind dann nicht mehr zurück gekommen. Zum anderen haben beispielsweise viele neue Lkw-Fahrer ihre Prüfungen nicht ablegen können und stehen deshalb jetzt dem Markt nicht zur Verfügung.
Dürfen sie nicht zurück oder haben sie anderswo etwas Besseres gefunden?
Das ist eine Kombination aus beidem. Es ist für EU-Bürger jetzt wesentlich schwieriger, ein Arbeitsvisum für Großbritannien zu bekommen, gerade im Niedriglohnsektor. Und die Beschränkungen sind höher, unter welchen Bedingungen sie arbeiten können, wie lange sie arbeiten können, ob sie krankenversichert bleiben können. Von daher ist es für viele jetzt wesentlich einfacher, in anderen EU-Staaten zu arbeiten.
Hätte die Regierung Johnson gewarnt sein müssen?
Das britische Wirtschaftsmodell hat in den letzten 20 Jahren sehr stark auf günstigen Arbeitskräften aus dem Ausland aufgebaut. Ich glaube, man hat nicht erwartet, dass es sich so dramatisch in der Versorgung widerspiegelt, dass die Leute teilweise kein Benzin mehr bekommen. Man muss aber dazu sagen, dass die Regierung das Problem lange verleugnet hat. Die Warnungen der Wirtschaft waren schon spätestens seit dem Sommer sehr laut.
Was hätte man früher tun können?
Die eine Möglichkeit wäre, kurzfristige Visa anzubieten. Das hat die Regierung lange abgelehnt. Die zweite ist die langfristige – eigene Arbeitskräfte auszubilden für den Lkw-Sektor und andere Bereiche und die Arbeitsbedingungen so zu verbessern, dass britische Bürger das übernehmen würden.
Sind das nur Anpassungsprobleme, bis sich der heimische Arbeitsmarkt darauf eingestellt hat?
Es ist zumindest eine Krise, die sich nicht ganz schnell wird lösen lassen. So schnell wird Großbritannien diese Arbeitskräfte weder im europäischen Markt anwerben noch eigenständig ersetzen können. So ist damit zu rechnen, dass die Probleme über den Winter bestehen bleiben. Danach ist die Frage, ob es der Regierung gelingt, genug in eigene Arbeitskräfte zu investieren.
Es ging darum, die Kontrolle zurückzugewinnen. Erleben die Briten jetzt das Gegenteil davon?
Bisher unterstützt die britische Bevölkerung weitgehend die Sichtweise der Regierung, dass viele Probleme mit Corona zu tun haben und nur zum Teil mit dem Brexit. Die britische Regierung versucht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass wenn sie langfristig in den eigenen Arbeitsmarkt investiert, diese Übergangsprobleme langfristig auszahlen wird. Es ist noch nicht ausgemacht, dass die Bevölkerung das langfristig mitmacht. Das hängt davon ab, wie einschneidend die Probleme sein werden. Was wir in den letzten Tagen gesehen haben, war für einige Briten wirklich dramatisch. Wenn das mehrere Wochen anhalten würde, glaube ich schon, dass die Bevölkerung die Regierung dafür verantwortlich machen wird mit ihrem Vorzeigeprojekt Brexit.
Dann kann es auch für Johnson mit der Wiederwahl gefährlich werden?
Dann kann es in der eigenen Partei für ihn gefährlich werden. Die nächsten Wahlen stehen erst 2024 an. Er ist nicht sofort als Regierungschef bedroht. Aber die Stimmung in der eigenen Partei würde wesentlich rauer werden. Vor allen Dingen fordert die Wirtschaft in vielen Bereichen neue Visa für europäische Arbeitskräfte. Wenn sich die Dinge weiter zuspitzen, wäre zu erwarten, dass die britische Regierung irgendwann gegensteuern müsste.
Das ginge nur mit einem deutlichen Fehlereingeständnis.
Das werden wir sehen. Wenn er es schafft, die Folgen zu begrenzen über den Winter, kann er gestärkt daraus hervorgehen.
Diese Erzählung: Wir schaffen Platz für unsere eigenen Arbeitskräfte, die ist also gar nicht unrealistisch?
Sie wird zumindest erst einmal von Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Wir erinnern uns: 2019 war Johnson so erfolgreich, weil er viele ehemalige Wähler der Labourpartei aus der Arbeiterklasse für die Konservativen gewonnen hat. Auf die zielt diese Botschaft ab. Wenn es ihm gelingt, mit dieser Politik die Löhne im Niedriglohnsektor für britische Arbeitskräfte zu verbessern und da durchzukommen, ohne dass die Wirtschaft komplett zusammenbricht, dann kann er damit Erfolg haben.
Und wenn nicht, ist dann vorstellbar, dass eine künftige britische Regierung auch wieder in die EU zurückkehren will?
Das glaube ich mittelfristig nicht. Auch die Labourpartei spricht mittlerweile überhaupt nicht mehr davon, die Freizügigkeit wieder einzuführen oder der EU beizutreten. Bei einer wirklich großen wirtschaftlichen Katastrophe, kann man sich vorstellen, dass bis zum nächsten Wahlkampf ein Streit entbrennt, ob Großbritannien nicht ein besseres, engeres Verhältnis zur EU und zum Binnenmarkt braucht. Einen britischen EU-Eintritt halte ich für keine Option, zumindest für eine Generation.



