Menschen als Wegwerfware haben "eine gewaltige Wirtschaftskraft"
Im RNZ-Interview sprach Menschenrechtsaktivist Dietmar Roller über die Dimensionen moderner Ausbeutung.



Vorsitzender von International Justice Mission Deutschland
Von Joris Ufer
Heidelberg. Dietmar Roller ist Vorstandsvorsitzender des deutschen Zweigs von "International Justice Mission" (IJM), einer gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation, die moderne Sklaverei bekämpft. Seit über 30 Jahren ist er in der Entwicklungszusammenarbeit tätig.
Herr Roller, Sklaverei erscheint heute wie eine längst überwundene Krise. Wie verbreitet ist sie tatsächlich noch?
Viele Menschen denken heute: Nach dem Ende der transatlantischen Sklavenhandels und nachdem sie bi s in die 70er-Jahre hinein alle Staaten nach und nach abgeschafft haben, gäbe es die Sklaverei nicht mehr. Dabei ist das Phänomen präsenter denn je. Wir gehen von über 50 Millionen Menschen aus, die derzeit in moderner Sklaverei gefangen sind, eine Zahl der International Labour Organisation.
Unterscheidet sich denn moderne Sklaverei von dem, was wir aus Geschichtsbüchern kennen?
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In der Art der Ausbeutung unterscheidet sie sich insofern, als das Menschen mittlerweile in Geschäftsmodellen gefangen werden. Das liegt daran, dass Sklaverei eben nicht mehr legal ist. Zur Zeit der transatlantischen Sklaverei gab es anders als heute staatliche Regeln, nach denen sich das abgespielt hat. Der Kern des Problems ist aktuell, dass es für arme Menschen keinen Zugang zum Rechtssystem gibt. Dadurch herrscht eine gewisse Straflosigkeit, aus der ausbeuterische Geschäftsmodelle erwachsen. Wir gehen davon aus, dass neben der Herstellung von gefälschten Produkten und dem Drogenhandel Menschenhandel zu den lukrativsten Geschäftszweige zählt. Auf 150 Milliarden Dollar pro Jahr werden die Profite daraus geschätzt. Moderne Sklaverei hat eine gewaltige Wirtschaftskraft.
Und wie sehen diese Geschäftsmodelle aus?
Bei moderner Sklaverei geht es immer um ganz einfache Arbeiten. Ein praktisches Beispiel: Sie erreichen mich gerade auf dem Handy. Zur Herstellung von Handys braucht es bestimmte Rohstoffe wie zum Beispiel das Erz Coltan. In den Minen, wo es abgebaut wird, werden viele Menschen – oft auch Kinder – unter furchtbaren Bedingungen zur Arbeit gezwungen. Die erhalten meist nichts und kämpfen nur ums Überleben, um dieses Material herauszuholen, das die Weltwirtschaft braucht. In späteren Verarbeitungsschritten ist das anders, weil es da um komplexere Prozesse geht. Ein anderes Beispiel für moderne Sklaverei wären bestimmte Arbeiten in der Landwirtschaft oder mit Blick auf Deutschland: Zwangsprostitution.
Also ist moderne Sklaverei auch in Ländern wie Deutschland zu finden?
Das Palermo-Protokoll der Vereinten Nationen definiert, was als Sklaverei gilt: Da werden Menschen gegen ihren Willen und unter Entzug der Freiheit zu Arbeiten gezwungen werden, die sie nicht tun wollen. Zwangsprostitution gehört demnach auf jeden Fall dazu.
Wo ist Sklaverei heute am verbreitetsten?
Geografisch gesehen ist insbesondere der globale Süden betroffen, weil dort überdurchschnittlich viele Menschen in Armut leben. Es fängt an ganz einfachen Punkten an. In Südasien etwa kann es leicht vorkommen, dass eine arme Familie 20 Euro für Medikamente braucht und deswegen zum Geldverleiher gehen muss. Der nimmt natürlich horrende Zinsen, aber Banken geben Armen nun mal keinen Kredit. Wenn sie es hinterher nicht zurückzahlen können, sagt der Geldverleiher: Das könnt ihr im Steinbruch eines Freundes von mir innerhalb von drei Wochen abarbeiten. Sie werden also dorthin transportiert und arbeiten die Schulden ab. Doch nach den drei Wochen werden ihnen plötzlich Unterkunft, Verpflegung und Transport in Rechnung gestellt. Wir hatten es bei der IJM schon mit Fällen zu tun, wo Familien wegen 20 Euro bereits in dritter Generation in Sklaverei gefangen waren. Der Großvater hat die Schulden gemacht, der Vater musste seit er Teenager war dafür arbeiten und der Enkel kennt schon gar nichts anderes mehr.
Gibt es Gruppen von Menschen, die besonders gefährdet sind?
Die verletzlichsten sind immer jene mit den wenigsten Ressourcen – also die ärmsten Menschen. Das Bild moderner Sklaverei ist aber auch sehr weiblich. Insgesamt sind Frauen und Kinder am meisten betroffen.
Wie lassen sich diese Ausbeutungsverhältnisse bekämpfen?
Was uns Hoffnung macht: Moderne Sklaverei lässt sich relativ gut bekämpfen – und zwar, weil es kein staatliches Monopol mehr darauf gibt. Sklaverei ist in jedem Land der Welt illegal und deshalb versuchen wir bei der IJM Rechtssysteme zum Wirken zu bringen. Wir gehen hinein in diese Länder, übernehmen Sklaverei-Fälle und bringen die Täter vor Gericht. Das kann einen Leuchtturm-Effekt haben. Wenn es zwei oder drei Verurteilungen gibt, beginnt das Recht zu wirken und die Ausbeutungssysteme verlieren an Macht. Wir sehen im Zuge dessen immer wieder, wie es dann zu Veränderungen kommt. Darüber hinaus schulen wir auch Staatsanwälte, Richter und Polizisten vor Ort.
Sie selbst sind schon lange in diesem Bereich tätig. Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Der Einstieg zu diesem Thema kam für mich vor etwa 30 Jahren. Da wurde ein vielleicht elf- oder zwölfjähriger Junge in einer Goldmine in Tansania verschüttet. Man hat ihn gerade noch herausziehen können. Seine Augen werde ich niemals vergessen. Er war voll mit weißem Staub und zitterte am ganzen Leib. Doch nach kurzer Zeit wollten sie ihn einfach wieder nach unten schicken, um aufzuräumen. Das war ein riesiger Schock. Ich habe mich damals gefragt: Wie kann es sein, dass es so etwas noch heute gibt?
Wie viel ist ein Sklave heute "wert"?
Zur Zeit der transatlantischen Sklaverei waren Sklaven teure Investitionen. Das klingt furchtbar, aber im Süden der USA wurden für so einen Menschen damals 12.000 bis 30.000 Dollar gezahlt. Heute sind es im Schnitt noch 80 Dollar. Menschen sind sozusagen zur Wegwerfware herabgestuft worden. Heutige Sklavenhalter fragen sich im Krankheitsfall: Lohnt es sich überhaupt, da einen Arzt zu holen? Das ist die traurige Wahrheit, mit der die moderne Sklaverei uns konfrontiert.
Wo sitzen die Profiteure?
Das ist eine ganze Kette von Leuten. Sehr indirekt profitieren schließlich auch wir. Wenn wir Kakao trinken, der nicht Fair Trade ist, ist es durchaus möglich, dass irgendwo versklavte Kinder an der Herstellung beteiligt waren. In Deutschland haben wir es mit Produkten im Wert von geschätzt 35 Milliarden Euro jährlich zu tun, die mit moderner Sklaverei kontaminiert sind. In den Ländern vor Ort sind es mafiöse Strukturen und Netzwerke, die arme Menschen ausbeuten – weil es eben keine großen Investments dafür braucht. Das ist für viele noch heute ein lukratives Geschäftsmodell.
Was können die Menschen hier in Deutschland dagegen tun?
Der erste Schritt ist immer, das Schweigen zu brechen und Aufmerksamkeit zu schaffen. Dieses Thema betrifft uns alle. Wenn man auf die Lieferketten schaut, hat jeder Deutsche im Schnitt 60 Sklaven. Darum ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung, dass wir nun ein Lieferkettengesetz haben. Deutsche Firmen müssen darauf achten, dass ihre Lieferketten frei von Sklavenarbeit sind. Vor allem aber brauchen wir weltweit Rechtssysteme, die für Arme genauso wirksam sind wie für Reiche. Letztlich müssen also viele Maßnahmen ineinander greifen. Wir sind jedoch fest überzeugt: Es ist möglich, moderner Sklaverei ein Ende zu setzen.
Entrechtet, ausgebeutet und nicht einmal Herr über den eigenen Körper – die Sklaverei gehört zu dunkelsten Facetten menschlichen Zusammenlebens. Doch bekannt ist sie schon Jahrtausenden und wurde zumindest zeitweise in Kulturen aus aller Welt praktiziert. Ein kurzer und unvollständiger Überblick der Geschichte von Menschen als Ware:
Die Anfänge
Obwohl die Ursprünge der Sklaverei im Dunkel liegen, vermuten viele Forscher sie in der Jungsteinzeit, als Menschen in zunehmend größeren Siedlungen sesshaft wurden. Vermutlich zwangen die Sieger lokaler Konflikte ihre Gefangenen zu Arbeiten auf den Feldern. Zu den ältesten schriftlichen Zeugnissen zählt der Codex Hammurapi, ein babylonischer Rechtskorpus aus dem 18. Jahrhundert vor Christus. Detailliert beschreibt er die Unterschiede zwischen Freien und Unfreien sowie Bestimmungen zum Handel mit Sklaven. Auch in der hebräischen Bibel gibt es Sklaven und Gesetze zum Umgang mit ihnen.
Die Antike
Schon die Ilias des griechischen Dichters Homer erzählt von der Versklavung besiegter Feinde während des trojanischen Kriegs. Für die Wirtschaft der alten Griechen waren sie als Zwangsarbeiter unverzichtbar. Aus antiken philosophischen Schriften wird deutlich, dass viele Sklaverei als etwas Natürliches sahen. Die römische Gesellschaft wiederum kannte zunächst vor allem die Schuldknechtschaft, also das Haften für eine Schuld mit dem eigenen Körper und dessen Arbeitskraft. Historiker gehen davon aus, dass sich durch die vielen Gefangenen im Zuge neuer Eroberungen eine drastischere Form der Sklaverei etablierte. Schätzungen gehen so weit, dass in der Blütezeit des römischen Reichs ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung Italiens Sklaven gewesen sein könnten.
Sklaverei in Asien
Auch in Asien war die Sklaverei verbreitet. Besonders viele Zwangsarbeiter scheint es über viele Jahrhunderte im "Nobi-System" Koreas gegeben zu haben. Zur Hochzeit zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert könnten rund ein Drittel der Bevölkerung hier Sklaven gewesen sein. Auch in China kannte man die Sklaverei und praktizierte sie spätestens seit der Han-Dynastie ab dem dritten Jahrhundert vor Christus. Für Indien belegen bereits frühe religiöse Texte wie die Manusmriti die Existenz von Sklaven.
Das Mittelalter
Im europäischen Mittelalter wurde die Routen des Sklavenhandels immer verzweigter. Neben der immer noch verbreiteten Praxis, gefangene Feinde zu versklaven, florierte insbesondere der Handel mit der arabischen Welt. Besonders betroffen waren heidnische Slawen in Osteuropa, die unter anderem durch die Franken und die Wikinger versklavt und etwa in das maurische Spanien verkauft wurden. Da es aber Christen verboten war, andere Christen zu versklaven, verschwand diese Praxis mit zunehmender Christianisierung zumindest aus Mitteleuropa. Indes entwickelten sich die nordafrikanischen muslimischen Reiche bald zu bedeutenden Umschlagplätzen für Sklaven. Von hier wurden zwischen dem 7. und dem 20. Jahrhundert Millionen von Menschen verkauft. Opfer waren vor allem Afrikaner aus den Gebieten südlich der Sahara, aber auch Europäer.
Die Neuzeit
Die wohl berüchtigtste Epoche der Sklaverei stellt der transatlantische Sklavenhandel dar. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert entwickelte sich auf Basis des europäischen Kolonialismus ein Handelsdreieck: An der Küste Westafrikas landeten Schiffe mit Waren, welche sie gegen Menschen eintauschten. Diese wurden als Sklaven nach Amerika und in die Karibik gebracht und verkauft. Von dort aus fuhren die Schiffe wieder zurück nach Europa, um mit von Sklaven hergestellten Gütern wie Zucker, Kaffee oder Baumwolle Handel zu treiben. Zwischen zehn und zwölf Millionen Schwarzafrikaner wurden im Zuge dessen auf den amerikanischen Kontinent verschleppt – gerechtfertigt durch eine rassistische Ideologie.