Kein Verständnis, kein Vertrauen

Das denkt Kurt Biedenkopf über den Stand der Einheit

Der frühere Ministerpräsident von Sachsen sieht weiterhin schwierige Aufgabe - "Es bleibt noch viel zu tun"

01.10.2019 UPDATE: 03.10.2019 06:00 Uhr 1 Minute, 42 Sekunden

Von Andreas Herholz, RNZ Berlin

Berlin. Seine politische Karriere hatte Kurt Biedenkopf im Herbst 1989 hinter sich. Ein Jahr zuvor hatte der frühere CDU-Generalsekretär den Vorsitz der NRW-CDU an Norbert Blüm abgegeben und sich aus der Tagespolitik zurückgezogen. Dann kam die Wende. Der frühere Professor für Handelsrecht und Rektor der Uni Bochum wurde als Gastprofessor nach Leipzig berufen - ein Dreivierteljahr später war er der erste Ministerpräsident des wieder gegründeten Freistaats Sachsen.

"Die Integration der ostdeutschen Länder in Gesamtdeutschland bleibt eine schwierige Aufgabe", sagt Biedenkopf heute. Die Einkommen und Lebensverhältnisse hätten sich "beachtlich angenähert", so der 89-Jährige. "Dennoch bleibt noch viel zu tun."

Dass es bis heute große Unterschiede zwischen Osten und Westen gibt, führt er auch auf die jahrzehntelange unterschiedliche Prägung zurück. "Im Westen Freiheit und freie Wirtschaft - im Osten starke Beschränkung der Freiheit und Planwirtschaft sowie umfassende politische Kontrolle. Dieser Unterschied und seine Folgen fanden und finden noch immer im Westen unzureichendes Verständnis." Zumal bis heute große Teile der staatlichen Verwaltung aus dem Westen stammten, merkt Biedenkopf an - "häufig ohne ausreichendes Verständnis der Verschiedenheiten und der unterschiedlichen Erfahrungen."

30 Jahre nach dem Mauerfall liegt der Osten bei 75 Prozent der Wirtschaftskraft des Westens. Biedenkopf, der in den Siebzigerjahren für einige Zeit Manager bei Henkel war, verweist dazu ebenfalls auf die historische Entwicklung. "Der Aufbau des Westens gelang in einer offenen Wirtschaft mit Zugang zu anderen Märkten und mithilfe amerikanischer Unterstützung", betont er. "Zudem wanderten nach der Teilung Deutschlands wertvolle Wirtschaftsbereiche aus der DDR nach Westdeutschland."

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Beispiele: Siemens verlegte seinen Sitz aus dem als unsicher scheinenden Berlin nach Erlangen und München; Audie, eins in Zwickau gegründet, zog nach Ingolstadt. Die Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgering der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft fand ihren Sitz in München. "Als die Wiedervereinigung kam, war keiner dieser Prozesse rückgängig zu machen", so Biedenkopf.

Doch die Unterschiede würden sich weiter angleichen, je mehr eine gemeinsame, gesamtdeutsche Erfahrung entsteht. "Die großen Weltzukunftsaufgaben, denen kein Land sich entziehen kann, werden den Ausgleich zwischen West und Osten befördern", so Biedenkopf. "Dazu wird auch beitragen, dass wir uns nicht mehr auf dauerhaftes Wachstum verlassen können. Diese Einsicht wird auch den Westen herausfordern und damit die Anpassung zwischen West und Ost befördern."

Biedenkopf regierte Sachsen bis 2002, Spitzname: "König Kurt". Was sagt er zum Erstarken der Rechtspopulisten? "Man muss ihnen Paroli bieten und sie als ungeeignet für eine demokratische und offene Gesellschaft entlarven." Er rät dazu, die Unsicherheit der Menschen und das fehlende Vertrauen "durch Dialog und Erklärung und durch Dienen statt Herrschen" zu überwinden. "Dann werden sich die Möglichkeiten bieten, wieder zu einer offenen Gesellschaft zurückzukehren, die nicht unter den populistischen Gefährdungen leiden muss."