"Jetzt einfach abzutauchen, wäre falsch"
Ehemaliger Ministerpräsident und EU-Kommissar spricht als Festredner bei Mittelstandskundgebung

Von Frederick Mersi
Herr Oettinger, fühlen Sie sich wohl, hier im Europäischen Hof?
Ich fühle mich in Heidelberg wohl, weil es eine tolle Stadt ist. Und es gibt viele schöne Hotels, aber bei einem familiengeführten Haus ist alles ausgesucht und gepflegt – und der Service herausragend.
Sind Sie lieber im Fünf-Sterne-Hotel oder im Festzelt?
Für Veranstaltungen definitiv im Festzelt, da passen mehr Leute rein. Für die Übernachtung im Hotel.
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Vermissen Sie im Unruhestand die politische Verantwortung?
Nein. Ich habe schon vor zweieinhalb Jahren entschieden, dass ich rausgehe aus der Politik. Trotzdem bleibe ich ein politischer Mensch. Wenn ich dann zum Mathaisemarkt in Schriesheim gehe oder eine Büttenrede bei der Fasnet in Bad Waldsee halte, dann sage ich auch etwas zu aktuellen politischen Fragen. Die Menschen würden es auch gar nicht verstehen, wenn ich in meinen Reden nur noch übers Wetter oder Fußball philosophiere.
Sie haben im Fernsehen gesagt, dass Sie ernsthaft darüber nachdenken, zum ersten Mal in Ihrem Leben SPD zu wählen. Fühlen Sie sich in der CDU nicht mehr zuhause?
Nein, das war ja eine ironische Aussage wegen der Schwäche der SPD. Aber wir brauchen zwei große Volksparteien. In Europa kann man das überall sehen: Wenn es eine Mitte-rechts- und eine Mitte-links-Partei gibt und beide die Kraft haben, Regierungspartei zu werden, haben wir eine stabile Demokratie. Wenn da eine Säule wegfällt, haben wir ein Problem – siehe Italien oder Frankreich. Deswegen kann man für Deutschland nur hoffen, dass die CDU 30 plus x als erreichbare Zielmarke hat und die SPD dahinter stärker wird.
Zuletzt haben Sie dem Handelsblatt gesagt, viele Bürger wüssten nicht mehr, wofür die CDU steht. Wofür steht die CDU denn?
Wir erarbeiten derzeit ein neues Grundsatzprogramm. Wenn man mehr als 14 Jahre regiert, steht die Notwendigkeit von Kompromissen mit dem Koalitionspartner im Vordergrund. Deswegen halte ich es für notwendig, dass die CDU mit Blick auf prägende Entwicklungen ihre Programmatik schärft, zum Beispiel bei der digitalen Revolution, Migration oder der Rolle in der Welt bei einem China, das Nummer eins werden will.
Hintergrund
Zur Person
Günther Oettinger wurde am 15. Oktober 1953 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Seine politische Karriere begann 1977 in seiner Heimatstadt Ditzingen,
Zur Person
Günther Oettinger wurde am 15. Oktober 1953 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen. Seine politische Karriere begann 1977 in seiner Heimatstadt Ditzingen, wo er acht Jahre Vorsitzender des CDU-Ortsverbands war. 1984 wurde er in den baden-württembergischen Landtag gewählt, 1991 zum Vorsitzenden der CDU-Fraktion. Von 2005 bis 2010 war er Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, bevor er als EU-Kommissar für Energie nach Brüssel wechselte. Vier Jahre später übernahm Oettinger das Ressort für Digitalwirtschaft. Dieses Amt legte er Ende 2019 nieder.
Würden Sie sich einen konservativeren Kurs wünschen?
Die CDU muss die Partei der Mitte bleiben. Strittige Themen wie der Atomausstieg oder das Aussetzen der Wehrpflicht sollte man nicht zurückdrehen. Das ist gelaufen. Aber wir brauchen eine stärkere Wirtschaftspolitik. Es gab Reformen auf dem Arbeitsmarkt, und wir haben den Sozialstaat ausgebaut. Aber der Wirtschaftsstandort wurde nicht gestärkt. Deutschland hat ein Wachstum von 0,6 Prozent. Andere wachsen stärker als wir – und bei der Digitalisierung liegen wir zurück. Arbeitsplätze, Innovation und Infrastruktur – da benötigt die CDU ein schärferes Profil, um wieder an die Jahre nach der Agenda 2010 anzuknüpfen. Denn es waren diese Politik von Gerhard Schröder und die Arbeitsmarkt-Reformen von Franz Müntefering, die uns einen Vorsprung bei der Wettbewerbsfähigkeit gegeben haben. Davon zehren wir derzeit.
Hat die SPD inhaltlich zuletzt also zu sehr die Politik der aktuellen Bundesregierung geprägt?
Die SPD war eigentlich sehr erfolgreich – bei den Themen, wo sie eine andere Position vertritt als die Union. Jedenfalls war sie inhaltlich erfolgreicher, als es wahrgenommen wird.
Personell stehen bei der CDU auch Veränderungen an. Ist die Aufteilung von Parteivorsitz und Spitzenkandidatur in Baden-Württemberg ein Vorbild für den Bund?
In der Landtagsfraktion und den Parteigremien gab es eine Präferenz für Susanne Eisenmann als Spitzenkandidatin. Dass Thomas Strobl das akzeptiert hat, ist sehr respektabel. Beide sind gewillt, als Team in den Wahlkampf zu gehen. Aber es gibt nie eine Blaupause für solche Szenarien. Es spricht auf Bundesebene viel für Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur in einer Hand. Das ist eine Präferenz, aber keine zwingende Zielsetzung und kein Automatismus. Beim Parteitag sollte man einen Vorsitzenden wählen, der auch das Zeug zum Kanzlerkandidaten hat. Das haben alle, die sich bisher beworben haben oder vermutlich bewerben werden. Wenn sie sich beweisen, wird die CDU sie auch als Kanzlerkandidat mittragen.
Mischen Sie sich nach Ihrer politischen Karriere in wichtige Entscheidungen ein – zum Beispiel, wie es in Thüringen weitergeht?
Ich kenne Mike Mohring gut und war ja bis Ende November im CDU-Präsidium, jetzt nicht mehr. Aber ich treffe regelmäßig wichtige Parteifreunde und gebe dort meinen Rat. Und wenn ich gefragt werde, habe ich auch eine Meinung. Jetzt einfach abzutauchen, wäre falsch.
Sind Sie denn vor allem Unternehmensberater oder Politiker?
Unternehmensberater. Es gibt eine Transformationsphase. Aber ich habe eine Reihe von Angeboten von Auftraggebern, die ich mir in Brüssel genehmigen lassen muss. Nach Ostern wird sicher 80 Prozent meiner Arbeitszeit in der Wirtschaftsberatung liegen.
Verstehen Sie jetzt besser, was Selbstständige umtreibt als bei Ihrem ersten Mathaisemarkt-Auftritt 2006?
Das wusste ich damals auch schon. Ich war Gesellschafter des Büros für Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung meines Vaters und dort bis 1991 acht Jahre beruflich tätig.
Sind Sie jetzt BDS-Mitglied?
Ich bin Mitglied im Kuratorium der Stiftung der Familienunternehmen, aber nicht beim BDS.
Lohnt sich das für Sie nicht?
Ich habe eine große Zahl von Mitgliedschaften. Mein Bedarf, irgendwo einzutreten, ist überschaubar. Aber ich war, bin und bleibe ein Freund des BDS.
Welche Episode Ihrer politischen Karriere würden Sie am liebsten ungeschehen machen?
Wenn man 35 Jahre in der Politik war, macht man viele Fehler. Aber dieser eine Satz in der Trauerrede für Hans Karl Filbinger war mit Sicherheit am ehesten angreifbar.
Würden Sie heute nicht mehr sagen, dass er Gegner des NS-Regimes war?
Ich habe diesen Satz damals schon mit Bedauern zurückgenommen.
Hat Ihr Hang zur freien Rede Ihnen eher genutzt oder geschadet?
Eigentlich sollte man nur frei reden. Das ist sogar in der Geschäftsordnung von Parlamenten festgehalten. Es heißt immer, die Politiker sind alle gleich, abgeschliffen und aalglatt. Aber kaum spricht man frei und provokativ, kommen Shitstorm, Sittenpolizei und selbernannte Ethikwächter. Es passt zu meiner Persönlichkeit, frei zu reden. In der Kommission gibt es in den Unterlagen eine LTT, eine "Line to take". Das ist die empfohlene Version, wie man sich zu einem Thema einlassen soll. Aber die sind so glatt geschliffen wie Kieselsteine. Freie Rede sorgt dagegen für Authentizität und ist spannender für Hörer oder Leser.
Für welche Erfolge wollen Sie den Menschen in Erinnerung bleiben?
Die Menschen sollen mich so nehmen, wie sie mich bemerkt oder vergessen haben. Da bin ich relativ uneitel. Aber ich bin schon stolz darauf, dass wir es in meiner Zeit als Ministerpräsident geschafft haben, nach 30 Jahren wieder einen ausgeglichenen Haushalt in Baden-Württemberg zu bekommen. Die Schuldenbremse im Grundgesetz war meine Idee. Sicher war auch die Vermeidung eines Gasstreits zwischen der Ukraine und Russland ein Erfolg, aber auch das Leistungsschutzrecht auf europäischer Ebene.

Welche Eigenschaft braucht man, um in der Politik erfolgreich zu sein?
Man muss Menschen mögen. Politik ist ständiger Umgang mit Menschen: Mitarbeiter, Bürger, Parteifreunde, Mitbewerber. Sprechen, zuhören und mit Menschen zusammensein – bis zum Schunkeln bei der Fasnet. Wer Menschen nicht mag, kann nicht dauerhaft in der Politik bleiben.
In Schriesheim haben Sie 2008 den Bau des Branichtunnels auf den Weg gebracht. Was hat dabei für Sie den Ausschlag gegeben?
Ich kenne die Verkehrssituation in der Metropolregion relativ gut. Für die Entwicklung der schönen Stadt Schriesheim war der Branichtunnel die einzige Möglichkeit zur Verkehrsentlastung. Aber das Projekt hatte eine Kostendimension, die den normalen Landeshaushalt gesprengt hätte. Deshalb habe ich damals ein Sonderprogramm für Projekte aufgesetzt, die in den Regierungsbezirken von überragender Bedeutung waren, aber vermutlich in den nächsten 15 Jahren keine Chance hätten. Wir hatten dazu den finanziellen Spielraum. So konnte ich vermeiden, dass andere Projekte schlechter gestellt werden.
Also war das kein Geburtstagsgeschenk für den CDU-Landtagsabgeordneten Georg Wacker?
Nein, das Thema stand ja an. Aber ich bin vor der Kabinettssitzung in die Fraktion gegangen – und der Georg hatte Geburtstag. Da habe ich zu ihm gesagt: "Jetzt hast Du aber ein schönes Geschenk bekommen."
Zählt das Glas, mit dem Sie laut Alt-Bürgermeister Peter Riehl in jedem Schriesheimer Gasthaus kostenlos ein Viertel Wein trinken dürfen, als Bestechungsaktion zum Tunnelbau?
Das glaube ich nicht, nein. Ich habe es nur einmal benutzt – und dann leider im Kofferraum zerdeppert. Ich war danach noch öfter in Schriesheim, aber da hat meist Peter Riehl eingeladen. Vielleicht kriege ich dieses Jahr ein neues von Herrn Höfer.
Was erhoffen Sie sich darüber hinaus von ihrem Mathaisemarkt-Besuch?
Eine einmalige Atmosphäre. Die Menschen dort sind fröhlich und gut drauf, so war das eigentlich immer. Das hat mir schon Lothar Späth als Ministerpräsident erzählt. Und die Mittelstandskundgebung ist der Stolz des baden-württembergischen BDS.
Was wollen Sie im Festzelt sagen?
Das muss ich mir noch überlegen. Aber diese Einladung ist mir eine Ehre. Und ich werde versuchen, die Erwartungen zu erfüllen und die gute Laune zu stärken.



