Eiszeit im Frühling

Wladimir Putin hat die demokratische Opposition zerschlagen

Und doch lebt in dem autokratischen Staat noch die Hoffnung auf ein freies Russland.

22.04.2023 UPDATE: 22.04.2023 06:00 Uhr 2 Minuten, 57 Sekunden
„Freiheit für Nawalny – Unser Russland ist im Gefängnis“ steht auf dem Transparent, das bei einer Demonstration für den russischen Oppositionellen in Berlin zu sehen war. Foto: dpa

Von Ulrich Krökel, RNZ Warschau

Moskau/Warschau. Schneebälle prasseln auf die Helme der Sonderpolizisten. Die berüchtigten Omon-Kämpfer greifen zu ihren Schlagstöcken. Doch dann ziehen sie sich zurück. Auf dem Moskauer Puschkin-Platz bricht Jubel aus. Die meist jungen Menschen ahnen nicht, dass es für lange Zeit der letzte kleine Triumph sein wird. Sie glauben im Januar 2021 noch, dass sie etwas bewirken können. Dass Alexei Nawalny, gegen dessen Verhaftung sie protestieren, zur Symbolfigur eines russischen Frühlings werden kann. Doch die wahre Eiszeit in Russland beginnt an diesem Tag erst.

Ein Moskauer Gericht verurteilt Nawalny im Eilverfahren zu zweieinhalb Jahren Gefängnis. Zweieinhalb Jahre! Davon kann Wladimir Kara-Mursa nur träumen. Im April 2023 greift die kremltreue Justiz zu ganz anderen Strafen. Kara-Mursa muss für 25 Jahre ins Lager. Wegen Hochverrats. Der Oppositionspolitiker soll Falschinformationen über die Armee verbreitet haben. Seit der Invasion in der Ukraine ist Russland noch einmal zu einem anderen Land geworden. Kremlkritiker sprechen von "Neostalinismus".

Zumindest belegen die Fälle von Nawalny und Kara-Mursa eine dramatische Eskalation. Der Polizeistaat und die politische Justiz schlagen immer gnadenloser zu. Bei Nawalny haben die Gerichte längst nachgelegt. Aktuell beläuft sich sein Strafmaß auf neun Jahre, aber immer neue Verfahren kommen hinzu. Haft bis 2051 ist möglich. Allerdings zweifeln Vertraute der beiden Männer, dass sie die kommenden Jahre durchstehen können. Obwohl Kara-Mursa erst 41 Jahre alt ist, Nawalny 46. Aber beide haben Giftanschläge überlebt, mutmaßlich verübt vom Geheimdienst FSB. Sie leiden schwer unter den Folgen.

Dennoch haben sich beide bewusst in die Fänge "dieses mörderischen Regimes" begeben, von dem Kara-Mursa spricht. Ein russischer Politiker gehöre nach Russland, sagt er, und so sieht es auch Nawalny. Die beiden stehen damit für die eine "Schule" der Opposition. Sie setzen auf das, was man den Mandela-Effekt nennen könnte. Nelson Mandela, der legendäre Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, saß 27 Jahre in Haft, bevor er zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde. So lange soll die Eiszeit in Russland nicht dauern: "Wir wissen, dass solche Regime schnell enden können", sagt Kara-Mursa.

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Dahinter steht die Idee eines Martyriums. Folter erdulden, um die Achtung der Menschen zu gewinnen. Um Russland nach Putins Niedergang in eine lichte Zukunft führen zu können. Das ist der Plan, dessen Verwirklichung aber von äußeren Faktoren abhängt. Von einer Niederlage im Krieg, vom Crash der Wirtschaft oder Machtkämpfen im Kreml. Alles möglich, aber ist es wahrscheinlich? Sicher scheint nur, dass sich die Menschen in Russland so bald nicht massenhaft gegen Präsident Wladimir Putin erheben werden. Umfragen zeigen eine Zustimmung zum Regime von über 70 Prozent. Die Werte mögen nicht zuverlässig sein. Aber Fachleute zweifeln nicht am Trend.

Entscheidend ist die Angst. "Um die existenzielle Angst dreht sich in Russland derzeit alles", erklärt der Moskauer Soziologe Grigori Judin. Diese Angst können auch Nawalny und Kara-Mursa niemandem nehmen. Und noch weniger sind dazu jene Putin-Gegner in der Lage, die vom westlichen Exil aus auf den Sturz des Regimes hinarbeiten. Sie bilden die andere Schule der liberalen Opposition, die ein Martyrium in Haft für wenig aussichtsreich hält.

Prominente Figuren gehören dazu. Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow etwa, der sich früh der Anti-Putin-Opposition anschloss. Heute lebt er in Kroatien, weil ihm in Russland das Straflager droht. Kasparow ist überzeugt: "Ich werde zurückkehren." Nur wann und unter welchen Bedingungen? Seine größte Hoffnung sei ein Sieg der Ukraine. "Dafür kämpfen wir." Zweifel sind allerdings erlaubt, dass Exil-Westler, die auf eine Niederlage Russlands hinarbeiten, in ihrer patriotisch gestimmten Heimat Gehör finden. Zu nah liegt der Vorwurf des Verrats.

Darunter leiden auch jene kremlkritischen Medien, die nach der Invasion verstummten und ihre Arbeit später im Exil wieder aufnahmen. Etwa die "Nowaja Gazeta" von Dmitri Muratow, der 2021 den Friedensnobelpreis erhielt. Um einem Verbot zuvorzukommen, stellte die Zeitung ihre Arbeit im März 2022 ein. Gut die Hälfte der Redakteure ging ins Exil, wo sie nun die "Nowaja Gazeta Europe" herausgeben. Auch dort droht Gewalt. Sicher sei niemand vor Putins langem Arm, sagt Chefredakteur Kirill Martynow. Aber: "Als Menschen haben wir keine Wahl, solange wir den Krieg nicht akzeptieren. Und das werden wir niemals tun."

Auch die Mitstreiter von Kara-Mursa und Nawalny arbeiten vom Exil aus. Leonid Wolkow ist zum wichtigsten Aktivposten des "Teams Nawalny" im Westen geworden. Er lebt in Litauen. Allein bei YouTube hat sein Team 6,35 Millionen Abonnenten. Es sei ein Irrtum, dass die Menschen in Russland nicht über den Krieg Bescheid wüssten, sagt Wolkow. Der füllige 42-Jährige mit dem rötlichen Vollbart ist Realist: "Putin-Land ist ein totalitärer Staat." Er bleibe aber optimistisch. Schließlich hätten die Menschen in der Sowjetunion die Diktatur auch überwunden. Nur wann die Eiszeit einem neuen Tauwetter weichen wird, sei offen.

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