95 Thesen, die die Welt verändern
Wie man Luther heute weiterdenken müsste - Ein Debattenbeitrag für Christen und alle anderen

Von Klaus Welzel
Heidelberg. Niemand weiß, ob Martin Luther seine 95 Thesen, die sich hauptsächlich mit der Thematik des Ablasses und den Ablassbriefen beschäftigten, wirklich an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte. Aber der 31. Oktober 1517, also der Tag, an dem das geschehen sein soll, gilt als Beginn der Reformation.
Luther selbst hatte die Thesen zuvor einem Brief an seinen kirchlichen Vorgesetzten beigefügt - und sie zudem einigen Freunden zugänglich gemacht. Diese brachten sie wohl als Druck in Umlauf. Die Resonanz war enorm. Luthers Thesen trafen den Nerv der Zeit, in der die Kirche allzu weltlich geworden war. Für Geld, so die Regel, konnte man sich selbst von den schlimmen Sünden freikaufen. Wer arm war, hatte eben Pech gehabt. Da die römische Kurie, aber auch die Bischöfe in immer größere Geldnot gerieten, wurden vor allem die Ablassbriefe, die eine Beichte ersetzten, von den Kanzlen herab stark beworben.
Was das mit unseren, in dieser Ausgabe veröffentlichten Thesen zu tun hat? Sehr viel. Ähnlich wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts gibt es auch jetzt wieder gesellschaftliche Tendenzen, die das Gemeinwohl gefährden und die es zu korrigieren gilt.
Der Unterdrücker ist aber nicht die Kirche. Es geht vielmehr um den Siegeszug des Kapitalismus, der sich weitgehend ohne Korrektiv entfaltet. Seitdem das sozialistische Konkurrenzmodell für einen Gesellschaftsentwurf kollabierte, hat der Markt quasi freie Hand. Die Geldvermehrung wurde zum Wert an sich erhoben.
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Die hier abgedruckten Thesen setzen freilich ein Leben voraus, das sich an christlichen Werten orientiert. Die Nächstenliebe gilt als Voraussetzung allen Denkens. Soweit nichts Neues. Woran aber weder Luther noch vor ihm anderen Kirchenmänner dachten, das ist die Erhaltung der Umwelt als Lebensgrundlage der Menschen. Auch die Globalisierung war so noch nicht bekannt. Und die fein ausgetüftelten Mechanismen der Finanzmärkte bedurften ebenfalls einer jahrhundertlangen Übung, ehe sie Investmentbanker, Broker und Shareholder-Value als festes Inventar unseres Wirtschaftens etablieren konnte.
Kurzum: Es gibt viel zu tun. Vieles zu korrigieren. Keine Revolte. Das wollte auch Luther nicht. Aber eben eine Reformation. Eine Reformation, die den gesellschaftlichen Zusammenhang wieder in den Mittelpunkt unseres Denkens stellt.
Luther nahm seine 95 Thesen mit in den Wittenberger Disput. Sie wurden heftig diskutiert, erfuhren Zustimmung und Ablehnung. Einiges las sich damals revolutionär, anderes ging vielleicht nicht weit genug. Wie auch immer. Die hier auf Zeitungspapier "genagelten" 95 Thesen sollen ebenfalls anregen und einen Meinungsaustausch anstoßen. Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften unter: leserbriefe@rnz.de
Was Luther heute von uns fordern würde
Vor 500 Jahren schlug der Reformator seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg. Und zwar anonym. Wir haben uns überlegt, womit der Begründer des Protestantismuswohl im Jahr 2017 die Welt aufrütteln würde.
1 Als Gott die Welt schuf, schuf er nicht nur den Menschen, sondern auch alle Pflanzen und Tiere.
2 Ein gottgefälliges Leben ist nur im Einklang mit der Natur möglich.
3 Nicht die Kirche, sonder Gott entscheidet, ob Reue aufrichtig ist.
4 Buße für Sünden kann nur während des irdischen Lebens geleistet werden. Sie kann und darf nicht gegen Geld erlassen werden.
5 Buße ist innere Einkehr. Sie ist umso glaubwürdiger, je weniger sie öffentlich gemacht wird.
6 Jeder Mensch hat dazu jeden Tag die Gelegenheit.
7 Der Papst kann und sollte - genauso wie alle anderen Religionsführer - Vorbild sein und Anstifter.
8 Die Kurie hat - genauso wie der Papst - den Menschen zu dienen.
9 500 Jahre Spaltung der beiden großen christlichen Kirchen sind genug - und Ausdruck des Scheiterns.
10 Alle christlichen Kirchen sollten sich zusammenfinden - sie sollen das Gemeinsame suchen.
11 Darüber hinaus müssen alle monotheistischen Religionen in einen intensiven Dialog treten.
12 Keine Religion darf der Feind einer anderen Religion sein.
13 Es gibt keine Religionskriege. Krieg ist immer Ausdruck von Habgier und Machstreben.
14 Geistliche dürfen keine Waffen segnen. Sie müssen sie vielmehr anprangern.
15 Die strikte Trennung von Kirche und Staat dient auch der Kräftigung von Kirche.
16 Kirche darf sich deshalb auch nicht mit der weltlichen Macht gemein machen.
17 Die Kirchenführer müssen Idealisten sein und der Utopie ihres Glaubens verpflichtet.
18 Wichtiger als die Verfehlungen eines Einzelnen ist sein Wille zum Besseren.
19 Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen - niemand existiert für sich alleine.
20 Sein Handeln muss darauf ausgerichtet sein, der Gemeinschaft zu dienen.
21 Zugleich muss die Gemeinschaft jedem einzelnen Mitglied die Freiheit lassen, sich selbstbestimmt zu entwickeln.
22 Jedes Handeln wirkt auch auf die anderen Mitglieder der Gemeinde - und darüber hinaus.
23 Nicht die Angst vor dem Fegefeuer sollte das Motiv für ein gottgefälliges Leben sein, sondern der Wille, das Leben innerhalb der Gemeinschaft zu verbessern.
24 Nicht nur für die Natur gilt, das alles mit allem zusammenhängt.
25 Gerechtigkeit darf nicht in Form von Almosen verwirklicht werden.
26 Jeder Mensch hat das Recht, sich zu entfalten.
27 Das Ziel des menschlichen Handelns muss die Gleichheit unter allen Brüdern und Schwestern sein.
28 Niemand kann seinen Seelenfrieden erlangen, wenn er sich auf Kosten anderer bereichert.
29 Jede Arbeit ist ihren gerechten Lohn wert.
30 Es darf keine Ungleichheit bei der Bezahlung von Arbeit geben.
31 Leiharbeit ist rechtens, wenn sie niemanden benachteiligt.
32 Es ist nicht recht, wenn die Bevölkerung des einen Landes auf Kosten eines anderen Landes lebt.
33 Güter sollten möglichst dort produziert werden, wo sie auch verbraucht werden.
34 Reichtum darf nur durch Arbeit entstehen.
35 Es ist nicht rechtens, Güter oder andere Dinge zurückzuhalten, damit ihr Wert steigt.
36 Der Handel muss immer die Interessen aller Beteiligten berücksichtigen.
37 Der Wert eines Unternehmens besteht vor allem in der Leistung seiner Mitarbeiter.
38 Maschinen dienen dem Menschen - nicht umgekehrt.
39 Der Aktienhandel ist unlauter.
40 Dass an der Börse gegen den Wert von Firmen gewettet wird, ist ein Exzess des Kapitalismus.
41 Geld ist ein Hilfsmittel, um den Austausch von Waren gerecht zu gestalten.
42 Geld stellt keinen Selbstzweck dar.
43 In einer idealen Gesellschaft wäre Geld nicht mehr nötig.
44 Der Wert eines Landes darf nicht in seiner Währung bemessen werden.
45 Wer sein Leben lang arbeitet, darf sein Alter nicht in Armut verbringen.
46 Die Würde eines jeden Menschen ist erst gegeben, wenn es keine materielle Not mehr gibt.
47 Ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, wäre die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens.
48 Der Mensch ist nicht nur durch seine Arbeit zu definieren.
49 Eine Sinnsuche muss nicht im Glauben an sich münden.
50 Doch der christliche Glaube greift alle diese Thesen auf.
51 Kirche muss sich der Armen und Entrechteten annehmen.
52 Kirche ist ein Ort der Frauen.
53 Im wahren Glauben kommt es nicht auf theologische Kenntnisse an.
54 Wenn Jesus heute leben würde, nähme er sich der Menschen in der Dritten Welt an.
55 Die Menschen in den industrialisierten Staaten würde Gottes Sohn zur Ordnung rufen.
56 Ihre Verschwendungssucht und ihr Egoismus sind Todsünden.
57 Die Entfremdung der Menschen von ihrer natürlichen Grundlage, der Erde, ist ein Irrweg.
58 Moderne Techniken, wie in der Petrischale designte Babys, stellen einen Bruch mit den natürlichen Grundlagen dar.
59 Nicht alles, was technisch machbar ist, kann vor Gott auch verantwortet werden.
60 Gott ist weit mehr als "nur" ein höheres Wesen.
61 Gott ist in uns selbst.
62 Der gläubige Mensch muss deshalb sich selbst annehmen.
63 Weder Hautfarbe noch Religion, Geschlecht oder Nationalität machen einen Menschen besser.
64 Kinder sind unser Wertvollstes und besonders zu schützen.
65 Die Familie ist die Keimzelle einer jeden Gesellschaft.
66 Weder Kirche noch Gesellschaft haben das Recht, über Lebensformen zu richten.
67 Natürlich nur dann, wenn diese Lebensform dem Wohl der Menschen dient.
68 Ausgrenzung ist der Anfang von Krieg.
69 Toleranz ist einer der obersten christlichen Tugenden.
70 Sie leitet sich direkt von der Nächstenliebe ab.
71 Nur wer liebt, ist fähig zur Toleranz.
72 Weil er weiß, dass er nichts zu verlieren hat, indem er anderen etwas gewährt.
73 Das Leid ist kein Lebensziel.
74 Deshalb darf man es auch nicht zu selbigem erhöhen.
75 Die Lehre Christi betont das Gute im Menschen.
76 Ein gottgefälliges Leben ist nicht an Leid gebunden.
77 Ziel eines christlichen Lebens ist der Frieden in Freiheit.
78 Diesem Ziel werden alle Handlungen untergeordnet.
79 Um die Ursachen von Krieg zu bekämpfen, bedarf es eines klugen Handelns.
80 Eine der größten Geißeln der Menschheit ist die Korruption.
81 Ressourcen sind für alle da.
82 Forschung hat dem Nutzen der Menschheit zu dienen.
83 Bildung ist ein Grundrecht für alle Menschen.
84 Oberstes Ziel der Lehre ist die freie Entfaltung des Geistes.
85 Gott braucht selbstbestimmte Mitglieder seiner Kirche.
86 Selbstbestimmtheit ist das Gegenteil von Unterdrückung.
87 Freiheit endet aber dort, wo sie Grenzen anderer verletzt.
88 Meinungen sind nicht zu verbieten, sondern zu widerlegen.
90 Keine Meinung steht über einer anderen.
91 Sie kann aber falsch und dadurch wiederlegbar sein.
92 Gott ist mit den Menschen, nicht gegen sie.
93 Glaube hilft.
94 Irrglaube ist möglich.
95 Aber er kann durch innere Einsicht korrigiert werden.
Heidelberg, den 31. Oktober 2017



