Afghanistan

"Wir haben gesehen, wie der Westen uns verraten hat"

Nasser Atif arbeitete als Ortskraft für die Uno in Afghanistan. Er berichtete aus seiner Heimat.

31.10.2022 UPDATE: 31.10.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 37 Sekunden
Nasser Atif (M.) mit Julia Campos vom Asylarbeitskreis (l.) und der Heidelberger Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner (Grüne). Foto: Joe

Von Michael Abschlag

Heidelberg. Für Nasser Atif begann alles mit vier Frauen. Jahrelang arbeitete der Afghane in seinem Heimatland für die Vereinten Nationen, zeitweise auch für die deutsche Botschaft. So ist er es, an den sich eines Tages die vier Witwen wenden: Ihre Männer wurden getötet, sie wollen nun Schutz in Deutschland.

Nasser Atif, seit 2015 in Deutschland, erzählt ruhig von dem Fall, von seinem Land und davon, wie sich die Lage dort verändert hat, seit die radikalislamischen Taliban 2021 die Macht übernahmen. Er sitzt an diesem Freitag im Welthaus am Heidelberger Hauptbahnhof, auf Einladung des Asylarbeitskreises und der Heidelberger Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner. Draußen leuchtet ein sommerhafter Oktobertag. Drinnen gibt es Süßwaren, gebrannte Mandeln und afghanischen Tee.

Atif stammt aus Barajan, einer Kleinstadt im Nordosten Afghanistans. Er erinnert sich noch gut an das Gefühl von 2002/03, als die Taliban gestürzt wurden: "Es war ein Gefühl der Freiheit", sagt er. Inzwischen sei eine neue Generation herangewachsen, an das Leben in der Freiheit gewöhnt. "Jetzt sind wir um 20 Jahre in die Dunkelheit zurückgeworfen."

Die Taliban, so sieht es Atif, seien kein Produkt Afghanistans, den meisten Bewohnern seien sie fremd. "Was im Westen immer übersehen wird: Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat", sagt er. "Ich selbst zum Beispiel bin kein ,Afghane’. Es gibt Dutzende Volksgruppen. Und die Taliban stammen zu 99 Prozent aus einer einzigen davon." Von vielen würden sie als Fremdherrscher angesehen: "Warum soll mir jemand sagen, wie lang mein Bart sein soll oder welche Farbe mein Turban haben soll?" Die einzige Lösung für ein Land wie Afghanistan sei ein föderales System.

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Und die Taliban? Die sieht Atif als Export, als ein Geschöpf fremder Mächte – "geschaffen von Briten und Amerikanern, finanziert von Saudi-Arabien und Katar". Sieben oppositionelle Gruppen hätten damals gegen die Sowjetunion gekämpft, radikale Islamisten seien nur eine davon gewesen. "Es sind Länder wie Saudi-Arabien und Katar, die die Taliban groß machen", so Atif.

Die Nachbarn, sagt er, würden Afghanistan als Spielball betrachten, als strategisches Hinterland – der Iran etwa, vor allem aber Pakistan. "Die Taliban werden von Pakistan unterstützt, das wird ihnen jeder Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan war, bestätigen. Wenn der Westen etwas tun will, dann muss er echte Sanktionen verhängen, und zwar gegen Pakistan."

An die Zeit nach dem Sturz der Taliban denkt er positiv zurück. Der Westen, erzählt er, habe sich stark um die Demobilisierung und Reintegration der Taliban-Kämpfer gekümmert. Seine Abteilung hätte zwei Hauptaufgaben gehabt: Den Schutz von Zivilisten und die Wahrung von Frauenrechten. Dann aber kehrten die Taliban zurück, und die westlichen Staaten unter Führung der USA zogen sich hastig zurück. "Wir haben gesehen, wie der Westen uns verraten hat", bilanziert Atif bitter.

Damit begann der Schrecken von neuem. Die Taliban, erzählt er, seien teils von Haus zu Haus gegangen, um ihre Gegner zu verhaften. Es gebe Berichte von erzwungenen Scheidungen. Das erste Ministerium, dass die Taliban schlossen, war das Frauenministerium – das nun "Ministerium für Tugend und gegen den Sittenverfall" heißt.

Die vier Frauen, von denen er erzählt, hatten ihre Männer beim Luftschlag von Kundus verloren, der, von der Bundeswehr 2009 durchgeführt, 91 Tote gefordert hatte. Die Witwen haben für das Frauenministerium gearbeitet. Nun droht ihnen die Verfolgung durch die Taliban. So hoffen sie darauf, in Deutschland aufgenommen zu werden: Möglich machen soll es ein neues Aufnahmeprogramm, dass von der Ampel-Koalition auf den Weg gebracht wurde und sich vor allem an Ortskräfte und Aktivisten richtet.

Allerdings gilt es als bürokratisch. Zwar betonen Atif und auch Brantner, das Verfahren sei das beste innerhalb der EU. Doch Atif verweist auch auf die Schwierigkeiten: "Wenn du für die deutsche Botschaft gearbeitet hast, findest du auf der Seite des Auswärtigen Amts eine Seite mit Fragen, die du ausfüllen kannst", sagt er. "Aber was ist mit denen, die zwar für Deutschland gearbeitet haben, aber nicht da angestellt waren?" Seine Forderung: Deutschland müsse auch all jene auf die Aufnahmelisten nehmen, die indirekt für Deutschland gearbeitet haben. Und: Der Westen müsse Afghanistan im Blick behalten. "Er darf das Land nicht alleine lassen", sagt er. "Den Fehler hat der Westen in den 1990ern gemacht, als die Sowjets besiegt waren. Das Ergebnis kennen wir."