Von Michael Abschlag
Heidelberg. Udo Lielischkies (65), Journalist und Autor ("Im Schatten des Kreml") berichtet seit 1999 für die ARD aus Moskau. Die RNZ traf ihn am Rande eines Vortrags im DAI Heidelberg.
Herr Lielischkies, Sie kamen 1999 als ARD-Korrespondent nach Russland. Wie hat sich das Land seitdem verändert?
Damals gab es heftige Debatten zwischen meinem Studioleiter, Thomas Roth, und mir über die Frage, wer wohl dieser auch den allermeisten Russen völlig unbekannte Politiker Wladimir Putin sein könnte. Ich wagte damals die kühne These, dass es gar nicht so schlecht sei, wenn nach diesem trinkfreudigen und burlesken Boris Jelzin dieser nüchterne und technokratische Putin käme, um etwas Ordnung in das Chaos zu bringen.
Putin hat ja den Russen letztlich einen Gesellschaftsvertrag angeboten. Vereinfacht: Vergesst Demokratie, dafür bekommt ihr im Gegenzug Stabilität und vielleicht sogar Wirtschaftswachstum. Das hat am Anfang auch funktioniert, vielen ging es besser in den ersten Jahren unter Putin. Das lag allerdings nicht daran, dass er ein so genialer Wirtschaftspolitiker gewesen wäre, sondern vor allem daran, dass der Ölpreis sich damals in kurzer Zeit versechsfacht hat.
Und wie ist die Stimmung heute? Im Moment schwächelt die russische Wirtschaft ja etwas.
Das stimmt. Seit sechs Jahren muss die Bevölkerung Reallohn-Verluste hinnehmen. Die Lebensmittel sind teurer geworden, vor allem durch Putins Gegensanktionen. Vor allem viele Rentner sind von Armut betroffen. Unter anderem das führt zu wachsendem Unmut.
Gerade in den letzten beiden Jahren erleben wir eine Zunahme der Proteste. Diese Proteste haben in den Regionen begonnen und hatten ganz konkrete Anlässe, wie etwa den Verfall des Gesundheitswesens oder den lokalen Müllnotstand.
Allerdings haben sich diese Bewegungen nie zu einem generellen Protest gegen Putin vereint. Grundsätzliche Kritik am System Putin erleben wir aber bei den Jugendlichen, die in Großstädten wie Moskau und Sankt Petersburg demonstrieren.
Ist die Unzufriedenheit denn in den letzten Jahren gewachsen?
Die Unzufriedenheit ist sehr groß. Eines meiner Barometer ist immer die Taxifahrt vom Flughafen und zurück. Die einstündigen Dialoge mit Taxifahrern spiegeln für mich eine Veränderung wider, man spürt immer mehr Verbitterung. Das habe ich vor sechs oder sieben Jahren so noch nicht erlebt.
Es gibt da immer diese beiden Aspekte, die man Fernseher und Kühlschrank nennen könnte, also Propaganda und persönliche Situation. Während der Krim-Annexion lief die Propaganda auf Hochtouren und konnte über die schlechte wirtschaftliche Situation hinwegtäuschen. Aber das hat sich irgendwann abgenutzt.
Und der Militäreinsatz in Syrien hat als Ersatz auch nicht wirklich gezündet, denn das war einfach zu weit weg. Deshalb haben wir heute einen sehr nervösen Kreml, der spürt, wie ihm die Legitimation wegbricht, erst Recht bei der jungen Bevölkerung.
Könnte das Putin gefährlich werden?
Leider lässt sich immer schwer voraussagen, wie sich so eine Bewegung entwickelt. Manchmal führen einzelne, hochemotionale Ereignisse zu einem Massenprotest, wie etwa auf dem Maidan in Kiew. In Russland bin ich da aber skeptisch. Es kann durchaus sein, dass das "System Putin" sich noch eine Weile hält, denn es hat ein großes, repressives Potenzial.
Und es gibt eine Gruppe von etwa zehn Prozent der Bevölkerung, der es gut geht – das sind die, die vom System profitieren, Militärs, Geheimdienstler, Mitarbeiter von Staatsfirmen. Und der Rest der Bevölkerung hat viel Erfahrung darin, schwierige Zeiten auszuhalten.
Hat die Repression zugenommen?
Absolut. Die Zahl der Verhaftungen bei den Demonstrationen hat zugenommen. Es werden sehr gezielt Einzelne herausgepickt und zum Beispiel zu mehreren Jahren Straflager verurteilt.
Zunehmende Repression zeigt sich auch im Internet, wo die Jugend unterwegs ist. Die längst nicht mehr das staatliche Fernsehen schaut. Auch dort werden die Zügel immer mehr angezogen. Für einen kritischen Kommentar können Sie dann durchaus schon mal für ein paar Jahre im Gefängnis verschwinden. Das zeigt natürlich Wirkung.
Sprechen die Leute mit Ihnen über so etwas? Oder haben sie Angst?
Beides. Ohne laufende Fernsehkamera hört man das sehr wohl. Wenn die Kamera läuft, ist es extrem schwer geworden, eine kritische Meinung einzufangen, weil die Menschen erkennbar Angst haben. Das ist eine Entwicklung, die sehr bedenklich ist.
Haben Sie als Journalist Beschränkungen erfahren?
Nicht direkt. Der Druck richtet sich jedoch massiv gegen die Menschen, deren Situation wir zeigen wollen. Ihnen wird der Kontakt mit uns manchmal regelrecht verboten, berichten sie, in der Regel von lokaler Polizei oder Geheimdienst. Das Grundübel ist einfach die fehlende Rechtsstaatlichkeit in Russland.
In einem Kapitel beschreibe ich einen Ernteraub in Krasnodar in Südrussland. Dort konnten wir durch viel Reporterglück filmen, wie ein lokaler Agrarbaron von seinen Sicherheitskräften 80 Hektar Wintergerste eines kleineren Bauern abernten ließ. Die Polizei war machtlos, da auch der lokale Richter offenkundig den rechtswidrigen Erntediebstahl absegnete.
Mit genug Geld lässt sich auch die Justiz kaufen. Die Agrarkonzerne, die kleinen Bauern auch ihr Land stehlen, müssen nichts befürchten. Das ist das Grundübel: Es gibt keine unabhängige Justiz.
Wie gehen die Menschen damit um?
Die Menschen, die ich in Russland kennengelernt habe, sind wunderbare Menschen, sehr gastfreundlich und mit sehr großem Gemeinschaftssinn. Das ist ja ein soziologisches Axiom: Je größer der Druck von Außen, desto mehr hält man im Inneren zusammen.
Und da die meisten Russen vom Staat nichts oder eher Unheil erwarten, ist die Familie etwa eine ganz zentrale Angelegenheit. Die Familie ist die letzte Fluchtburg, ihr traut man noch. Auch Unternehmen sind dadurch geprägt: Als Mitarbeiter werden am liebsten Familienangehörige einstellt.
Sie sprachen die Nervosität des Kremls an. Besteht die Gefahr, dass Putin mit außenpolitischen Abenteuern von Problemen im Inneren ablenken will?
Für Putin war es ein großer Schock, dass es kurz vor seiner erneuten Amtsübernahme 2011 zu Massenprotesten in großen Städten, vor allem Moskau, kam. Viele Beobachter glauben, dass Putin spätestens damals beschloss, ein neues Narrativ aufzubauen, das da heißt: Wir werden schon wieder vom Westen angegriffen. Es wurde eine regelrechte Wagenburgmentalität geschaffen.
Man braucht ja eine Erklärung dafür, warum es dem Land schlecht geht, und das ist für Autokraten im Zweifel immer der äußere Feind. Der Kreml knüpft gezielt an die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg an, als Russland sich schon einmal mit vielen Opfern erfolgreich verteidigte. Diese Erinnerung wird immer wieder beschworen. Als ich meine Tochter am Tag des Vaterlandsverteidigers vom Kindergarten abholen wollte, hatten die Kleinen Marine- und Kampfuniformen an.
Es gibt eine mitgliederstarke militärische Jugendorganisation, die im "Patriotenpark" vor den Toren Moskaus einen Nachbau des deutschen Reichstags erstürmen können. Im Fernsehen laufen Panzerwettbewerbe. All das dient dazu, dieses Gefühl eines Belagerungszustands herzustellen. Und der ermöglicht, Kritiker im eigenen Land als Verräter, als fünfte Kolonne zu diffamieren.
Was sind denn die außenpolitischen Ziele Russlands?
Die russischen Eliten haben sich mit dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums nie wirklich abgefunden und beharren auf dem alten Großmacht- beziehungsweise Weltmachtstatus. Angesichts einer bescheidenen Wirtschaftskraft, die gerade einmal der Italiens entspricht, Ist das ein problematischer Anspruch.
Die dramatische Militarisierung des Landes, gesellschaftlich wie militärisch, ist der Reflex auf diesen Widerspruch. Sinngemäß: Wenn der Westen uns schon nicht akzeptiert und anerkennt, soll er uns zumindest fürchten. Es gibt die Gruppe der sogenannten "Putinversteher", auch in Deutschland, die behaupten, Russland reagiere nur auf westliches Fehlverhalten: Die Nato-Osterweiterung habe nachvollziehbare Bedrohungsgefühle geweckt, Putins zunächst ausgestreckte Hand sei ausgeschlagen worden.
Das sehe ich anders.
Putin hat schon 1999 der EU-Troika in Helsinki eine klare Absage an die Integration in europäische Wert- und Wirtschaftsstrukturen erteilt. Das Problem ist, dass der alte, imperiale Traum weiterlebt und Russland sich nicht als Nationalstaat beziehungsweise Mittel- oder Regionalmacht verstehen will. Moskau beansprucht nach wie vor ein Mitspracherecht im sogenannten "nahen Ausland", eine Rolle als Schutzpatron der russischen Minderheiten in zahlreichen inzwischen souveränen Staaten in Osteuropa. Das aber ist der zentrale Widerspruch, der den Umgang mit dem Kreml so schwierig macht.