Politologe warnt Kanzler vor schweren Waffen für die Ukraine
Wolfgang Merkel befürchtet, dass sich Deutschland mit einer Lieferung zur Kriegspartei machen könnte.

Von Daniel Bräuer
Heidelberg. Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine könne Deutschland zur Kriegspartei machen – und erhöhe das Risiko eines Atomkriegs. Das sind die zentralen Warnungen eines von Alice Schwarzer initiierten Offenen Briefes an die Bundesregierung.

Der Politologe Wolfgang Merkel gehört zu den Erstunterzeichnern. Der emeritierte Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission und lehrte von 1998 bis 2004 am Institut für Politische Wissenschaft in Heidelberg.
Herr Prof. Merkel, Sie sprechen sich gegen weitere schwere Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Warum?
Wir müssen das Risiko einer weiteren Eskalation ernst nehmen. Die kann konventionell sein. Sie kann aber auch, wie Lawrow und Putin angekündigt haben und auch der CIA vermutet, durch einen begrenzten taktischen Nuklearschlag geschehen. Das kann man politisch wie ethisch nicht verantworten.
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Spielt es eine besondere Rolle, wenn Deutschland neben anderen Ländern schwere Waffen liefert? Oder richtet sich der Appell eigentlich an alle westlichen Unterstützer der Ukraine?
Nein, der richtet sich direkt an den Bundeskanzler, der die gleiche Befürchtung ja auch schon in einem Interview formuliert hat: Dass wir alles tun müssen, um eine Eskalation in Richtung eines dritten Weltkrieges zu vermeiden. Nun hat der Bundeskanzler eine Wende genommen in dieser Frage. Daran soll dieser offene Brief ihn erinnern: Welches Risiko das bedeutet.
Der Bundeskanzler soll das Votum des Bundestages ignorieren?
Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. Ein Votum im Parlament ist zu achten, aber nicht irreversibel. Fehler können im Parlament revidiert werden. Man kann für neue Mehrheiten werben. Neue Eskalationen werden wieder neue Antworten erfordern. In diese Richtung soll der Brief einen Anstoß geben.
Sie argumentieren auch mit dem Leid der Zivilbevölkerung. Je schneller der Krieg endet, desto besser?
Hinsichtlich der Frage der Opfer: ja, ohne jeden Zweifel. Mit jedem Tag, den der Krieg früher endet, wird viel Leid vermieden. Es gibt keine ethische Alternative, als mit allen Mitteln einen Waffenstillstand zu ermöglichen.
Wenn man das konsequent zu Ende denkt, läuft es auf eine Kapitulation der Ukraine hinaus, wenn sie keine weitere Unterstützung bekommt.
Ich bestreite in keiner Weise, dass es ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta gibt. Ich sage nicht, dass die Ukraine kapitulieren soll. Wir müssen nur – und das hat der Kanzler vorher ja getan – ruhigen Blutes überlegen: Was wollen wir erreichen? Was sind die Risiken? Sind diese verantwortbar? In diesem Dilemma befindet sich der Westen, wenn er Waffen in einen Krieg liefert, in dem der Aggressor die Eskalationsdominanz besitzt.
Wie kommt man zu einer Verhandlungslösung, wenn der einen Seite früher oder später schlicht die Waffen ausgehen? Dann hat Russland keinerlei Anreize, zu verhandeln.
Sie sehen in meinem Zögern, wie schwer diese Fragen sind. Ich sage, dass der Westen und die USA viel mehr Wert darauf legen sollten, einen Waffenstillstand herbeizuführen, als neue Kriegsziele zu formulieren, die dann heißen: Der Krieg darf auf keinen Fall von Russland gewonnen oder der Ukraine verloren werden. Russland muss nachhaltig geschwächt werden. Dann hält der Krieg noch lange an.
Inwiefern ist es ein neues Ziel, dass Russland nicht gewinnen darf?
Das ist eine unpassende binäre Codierung voller Fragen. Was heißt hier eigentlich Sieg oder Niederlage? Die oberste Prämisse ist, dass dieser Krieg so wenig Opfer wie möglich verursacht. Natürlich müssen alle legitimen Mittel eingesetzt werden, um eine solche Eskalation zu verhindern.
Welche Mittel? Und wie kann der Westen einen Kompromiss mit Russland herbeiführen?
Es soll ein Waffenstillstand sein, in dem beide Seite sich erkennen können.
In dem Brief steht ausdrücklich "Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können".
Warum kümmern sich die USA nicht darum, ein Einverständnis mit China herzustellen? Warum gibt es nicht diese Art von politischem Druck und diplomatischen Großoffensiven? Das Vollpumpen mit Waffen in einen Krieg, den die Ukraine nur dann nicht verlieren kann, wenn Russland keine Atomwaffen einsetzt, ist problematisch. Das Risiko ist so immens, dass es, wie Jürgen Habermas schreibt, nicht eingegangen werden kann.
Nochmal: Es gibt ein Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Und die gewählten Repräsentanten der Ukraine können und sollen dieses Recht wahrnehmen. Aber es kann nicht auf alle Kosten und unter allen Opfern angestrebt werden. Irgendwann muss dieses Recht auf Selbstverteidigung diskontiert werden mit einer möglicherweise immensen Opfer, die dadurch zusätzlich zu beklagen wären. Wer dies nicht sieht, verstößt gegen allgemein akzeptierte Richtlinien politischer Ethik.