Humanitäre Lage katastrophal

Afghanistan driftet mit den Taliban an der Macht ins Chaos ab

Staatliche Aufgaben werden unter den neuen Machthabern praktisch nicht mehr geleistet. Unter anderem bekommen Lehrer seit Monaten kein Gehalt mehr.

28.12.2021 UPDATE: 29.12.2021 11:00 Uhr 3 Minuten, 15 Sekunden
„Wir alle sind entmutigt“ – der Lehrer Mohammed Dadfar unterrichtet in der Provinz Bamian. Foto: dpa

Von Veronika Eschbacher

Kabul. Mohammed Dadfar klingt angeschlagen. Zwölf Jahre lang hat er als Lehrer in der Provinz Bamian in Afghanistan die Landessprache Dari und Geschichte unterrichtet. Zwölf Jahre lang habe er sich jeden Tag auf die rund 900 Schüler seiner staatlichen Schule gefreut, auf ihre Lebhaftigkeit und ihre Wissbegierde. Seit aber die militant-islamistischen Taliban die Macht in seinem Heimatland übernommen haben, sei alles anders.

"Wir alle sind entmutigt und niedergeschlagen", sagt Dadfar. Das liege einerseits daran, dass viele Träume und Lebensziele mit der Rückkehr der Islamisten Mitte August geplatzt seien. Viel schlimmer aber sei, dass die ohnehin bisher mickrig bezahlte Lehrerschaft seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen habe, erzählt Dadfar am Telefon.

Heute bleiben viele Lehrer den Schulen fern, weil sie gezwungen sind, anderswo Geld zu verdienen. In der Vergangenheit wurden laut UN-Kinderhilfswerk Unicef die rund 190.000 Lehrer im öffentlichen Schulsystem bis zu 70 Prozent über ausländische Gelder finanziert. Die internationalen Truppen sind Ende August abgezogen, die Taliban übernahmen die Macht, aber kein Land hat ihre Regierung anerkannt.

Die Lehrer stünden heute unter derart großem Stress, Geld aufzutreiben, dass sie sich kaum auf den Unterricht konzentrieren könnten, sagt Dadfar. Er selbst müsse sich bei seinem Vermieter immer wieder und lange für längst überfällige Mieten entschuldigen. Dadfar taucht immerhin weiter an seiner Arbeitsstelle auf.

Der Oberlehrer Hamidullah Ramaki aus Kabul erzählt, in seiner staatlichen Schule mit 19 Klassen seien in der Zeit vor den Winterferien immer nur sieben oder acht Lehrer zum Unterricht gekommen. Er habe seine Bücher verkauft, um Holz für den Winter kaufen zu können.

Unicef warnt vor einem Kollaps des Systems. "Wenn die Lehrer ihre Gehälter nicht erhalten, besteht die akute Gefahr, dass das gesamte System zusammenbricht", so eine Unicef-Sprecherin. Die fast acht Millionen Kinder, die derzeit eine Schule besuchten, könnten so nie das Wissen und die Fähigkeiten erwerben, die sie für ein Leben in Würde benötigten.

Doch nicht nur der Bildungssektor hat massive Probleme. Fünf Monate nach der Machtübernahme straucheln die Taliban, wichtige öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen – mit teils desaströsen Folgen. Um das Gesundheitswesen steht es noch schlimmer. Es wurde zu einem großen Teil von internationalen Geldgebern über einen von der Weltbank verwalteten Fonds finanziert. Dieser stellte seine Zahlungen aufgrund der Sanktionen gegen die Taliban ein.

Doktor Musa Dschan Sultani, Vizechef der Gesundheitsabteilung der Provinz Kandahar im Süden des Landes zählt am Telefon auf, was seither in den staatlichen Gesundheitseinrichtungen nicht mehr funktioniert. "Rettungswagen können in vielen Gegenden nicht mehr fahren, weil es kein Benzin gibt. Ärzte können in manchen Gegenden keine Nachtdienste abhalten, weil es keinen Strom gibt. Mitarbeiter im Gesundheitssektor können nicht mehr zur Arbeit kommen, weil sie sich die Fahrt zu ihrer Arbeitsstelle nicht mehr leisten können. Wieder andere haben ihren Job gänzlich aufgegeben und wollen ins Ausland, um dort Geld zu verdienen."

Angesichts derartig gravierender Probleme scheint es fast irrelevant, dass die Taliban ihr Versprechen nicht umsetzen, das zerstörte Land wieder aufzubauen. Auch hier mangelt es am Geld. Auch das Justizsystem funktioniert erst eingeschränkt. Einem ehemaligen Richter zufolge sind die Gerichte zumeist nur mit drei Mitarbeitern besetzt: dem Oberrichter, einem Mufti und einem Schreiber. Sie nähmen die allermeisten Fälle allerdings nicht an und sagten den Menschen, sie sollten warten. Heiratsurkunden, Vollmachten oder Beglaubigungen würden ausgestellt, weil die Taliban damit Einnahmen verbuchen könnten.

Neben Geld fehlt es auch an Know-how. Ministerien sollen bis heute praktisch leer sein. Die Taliban haben Beamte der Vorgängerregierung dazu aufgerufen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen – doch nur einen Teil von ihnen kam. Wenn sie kommen, dann wegen des ausstehenden Gehalts oft nur einen Tag in der Woche.

Befragt man Behördenvertreter der Taliban zu den öffentlichen Dienstleistungen, erhält man oft widersprüchliche Antworten. Von einem Sprecher des Finanzministeriums hieß es, man zahle aktuell nicht mangels Gelder keine Pensionen an ehemalige Regierungsbeamte aus, sondern weil die Personalausweis-Systeme nicht aktiv seien.

Von der Behörde, die Personalausweise ausgibt, heißt es, in 20 Büros in Kabul sowie in zehn Provinzen stelle man momentan die neueren "E-Taskeras" im Scheckkartenformat aus, in den anderen Provinzen könne man jederzeit einen Personalausweis auf Papier erhalten. Andere Behördensprecher wie etwa der Stadtgemeinde Kabul sagen, es gebe kleinere Anpassungen wegen mangelnder Finanzen, man baue aber weiter Straßen, repariere Gehsteige oder sammle den Müll ein.

In der Vergangenheit wurden 75 Prozent der Staatsausgaben in Afghanistan von Geberländern finanziert. Laut Weltbank könnten die Taliban maximal 2,2 Milliarden US-Dollar an Einnahmen jährlich generieren, was ohne Hilfsgelder einen Rückgang der Staatsausgaben von mindestens 60 Prozent bedeute.

Beobachter sagen, den Taliban hätte klar sein müssen, dass ausländische Gelder eingestellt werden, wenn sie das Land militärisch übernehmen. Auf Forderungen westlicher Geldgeber, Frauen- und Menschenrechte zu achten und andere politische Kräfte einzubinden, sind sie bisher praktisch nicht eingegangen.

Angesichts der katastrophalen humanitären Lage erleichterten die USA vor wenigen Tagen internationale Hilfen. Davor hatte der UN-Sicherheitsrat eine Ausnahme vom Sanktionsregime für "humanitäre Hilfe und andere Aktivitäten zur Unterstützung grundlegender menschlicher Bedürfnisse" verabschiedet. Verbunden damit war ein Appell, die Hilfen in den Bereichen Nahrungsmittelversorgung, Gesundheit, Wasser und Abwasser sowie Bildung zu beschleunigen. Ob und wie schnell davon etwas beim Lehrer Mohammed Dadfar ankommt, wird sich zeigen.

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