"Ich empfinde das als Zumutung"
Betroffenenvertreter Matthias Katsch kritisiert emeritierten Papst Benedikt XVI.

Von Alexander Rechner
Heidelberg. Matthias Katsch ist Philosoph und deckte 2010 den Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg mit auf. Er selbst wurde dort als Schüler missbraucht, gründete die Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" mit und setzt sich seitdem für die Aufklärung in der katholischen Kirche ein.

Herr Katsch, das Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising erschüttert die katholische Kirche. Nehmen Sie die Entschuldigung des ehemaligen Erzbischofs Joseph Ratzinger und Papstes Benedikt XVI. an?
Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich Benedikt XVI. bei mir entschuldigt. Diese allgemeine Entschuldigung, dass sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche geschehen ist, beziehe ich nicht auf mich. Im Gegenteil: Ich empfinde das Schreiben als eine Zumutung. Denn es rückt die Betroffenen wieder in die Position, die Betroffenheitsbekundungen und vorschnellen sowie allgemein gehaltenen Entschuldigungen zu akzeptieren. Es hat schon etwas von Nötigung.
Wie bewerten Sie die Vorwürfe gegen Benedikt XVI.?
Benedikt ist Teil des Systems gewesen. Jenseits der Frage, wann er welches Detail gewusst hat, zeigt der Vorgang in München, dass man von einem systematischen Vorgehen ausgehen muss. Schließlich hat man Täter immer wieder beschützt vor den Folgen ihrer Taten. Das ist ein Vorgehen, was wir weltweit überall immer und immer wieder gesehen haben. Benedikt trifft daher im hohen Maße Verantwortung für die Missbrauchsskandale.
Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein sieht aber rund um das Münchner Missbrauchsgutachten eine Kampagne gegen den emeritierten Papst…
Benedikt hatte noch nie ein glückliches Händchen bei der Auswahl seiner Berater, soweit ich das beobachtet habe. Solche Bemerkungen schaden dem Ansehen Benedikts, fürchte ich.
Was erwarten Sie von Benedikt XVI.?
Statt dieses Schreibens hätte mir ein einfaches Bedauern darüber gereicht, dass er nicht alles versucht hat, um Kinder in seiner Zeit und in seinem Verantwortungsbereich vor Gewalt und Missbrauch zu schützen. Aber wesentlich hätte ich gefunden, dass er sich darüber Gedanken macht oder Hinweise gibt, wie den Opfern auch seines wie auch immer verklausulierten Fehlverhaltens geholfen werden kann.
Und wie kann die Kirche helfen?
Konkret muss die katholische Kirche drei Aspekte angehen: Erstens muss sie endlich eine unabhängige Aufklärung zulassen – und nicht mehr länger den Prozess unter der Kontrolle haben wollen. Zweitens den Betroffenen helfen in Form eines Opfergenesungswerkes, damit jene Menschen eine unkomplizierte und praktische Hilfe in Anspruch nehmen können. Drittens: eine faire Entschädigung. Bei diesem Punkt gibt es keinen Fortschritt. Vorschläge liegen seit 2019 auf dem Tisch. Die Bischöfe haben sich diese präsentieren lassen, dann aber zur Seite gewischt, weil es ihnen zu teuer war.
Die Bischöfe verweisen hinsichtlich von Reformen und Aufklärung von Missbrauchsfällen regelmäßig auf den Synodalen Weg. Überzeugt Sie das?
Ich finde es wichtig und richtig, systemisch an die Sache heranzugehen. Es geht schließlich auch darum, in Zukunft Kinder im Raum der Kirche zu schützen. Ich begrüße es, dass man die erforschten sogenannten systemischen Risikofaktoren, wie Machtverhältnisse, die Haltung zur Sexualität und Homosexualität im Speziellen, den Zölibat sowie die Kinderbeichte als Risikoort, in den Blick nimmt. Jedoch stört mich, dass sich zwar alle Bischöfe wortreich auf die Betroffenen berufen, aber dann doch nicht die den Betroffenen wichtigen Themen an den Anfang stellen. Vielmehr stehen wieder innerkirchliche Auseinandersetzungen im Vordergrund. Obwohl links und rechts am Wegesrand dieses synodalen Weges Betroffene liegen, die darauf warten, versorgt zu werden.
Muss der Pflichtzölibat in der katholischen Kirche fallen?
Der Zölibat ist in der katholischen Kirche ein Risikofaktor aus Sicht der Wissenschaft. Aber das bedeutet nicht, wenn der Zölibat weg ist, gibt es keine sexuelle Gewalt oder keinen Missbrauch mehr. Ich als Betroffenenvertreter halte mich raus, weil es eben nicht diese direkte Beziehung gibt. Die Frage muss die Kirche beantworten.
Aus der Politik war zuletzt zu hören, die Aufarbeitung dürfte nicht nur der Institution Kirche überlassen werden. Was halten Sie davon?
Ich würde mir wünschen, dass die Kirche Kontrolle abgibt. Eine unabhängige Wahrheitskommission auf Bundesebene sollte eingesetzt werden. Mit dem Ziel, Vertrauen zu gewinnen.
Hat der Staat versagt?
Der Staat hat auf jeden Fall dadurch, dass er die Kirche zwölf Jahre lang hat gewähren lassen, nichts dazu beigetragen, dass diese elend lange Aufarbeitung beschleunigt wurde. Er hat jetzt die Chance, nach den Bekundungen aus den verschiedenen Parteien im Bundestag tatsächlich einen neuen Anlauf zu unternehmen. Ich appelliere an die Parteien im Bundestag, diese Verantwortung wahrzunehmen.
Die Auszeit von Rainer Maria Kardinal Woelki in Köln endet demnächst. Welche Auswirkungen erwarten Sie im dortigen Erzbistum nach seiner Rückkehr?
Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass man ernsthaft meint, in Köln mit Kardinal Woelki in die Zukunft gehen zu können und zu wollen. Meine Hoffnung ist, dass dort ein echter Neuanfang gelingt. Vor allem, weil ich hautnah erlebt habe, wie sich die Betroffenen von Kardinal Woelki hinters Licht geführt fühlten. Oder wie sie damals in seinem Betroffenenbeirat unter seinen Manövern gelitten haben. Deshalb hoffe ich sehr, dass er jetzt nicht einfach nach ein paar Monaten Auszeit zurückkommt, sondern ein echter Neuanfang gewagt wird.