Von Klaus Welzel
Heidelberg. Seit fünf Jahrzehnten beschäftigt sich Helmut K. Seitz mit den Folgen des Alkoholkonsums – unter anderem am Alkoholforschungszentrum der Universität Heidelberg. Eine der Erkenntnisse des Leberspezialisten an der Heidelberger Privatklinik Ethianum lautet: Mehr als 200 Krankheiten sind auf übermäßiges Trinken zurückzuführen. Seine zentralen Thesen, dass die Verfügbarkeit von Alkohol zwingend eingeschränkt werden muss, fasste der Chemiker und Gastroenterologe gemeinsam mit der Heidelberger Journalistin Ingrid Thoms-Hoffmann in dem Buch "Die berauschte Gesellschaft" zusammen. Durch die Stuttgarter Randalenacht fühlt sich Seitz in seiner Forderung nach weniger Alkohol im öffentlichen Raum bestätigt.
Professor Seitz, inwiefern hat die Corona-Pandemie das Alkoholverhalten der Menschen verändert?
Insoweit, dass die Menschen durch den Lockdown mehr oder weniger isoliert waren, es entstehen Depressionen und wie man weiß, werden Depressionen oftmals mit Alkohol bekämpft – leider. Aber auch in Familien wird dann mehr getrunken, in der Enge entstehen dann Aggressionen, es geht hoch her, viele werden enthemmt.
Gibt es Hinweise, dass auch wirklich mehr Alkohol konsumiert wird?
Die Zahlen, wie ich sie kenne, besagen, dass der Verkauf von Alkohol in der Lockdown-Phase um 30 Prozent gestiegen ist. Da fürchte ich, dass dieses Mehr an Alkohol auch zu mehr häuslicher Gewalt geführt hat.
Es gibt ja auch Gewalt auf der Straße. In Stuttgart randalierten vor zwei Wochen hunderte junger Männer, alkoholgeschwängert, prügelten Polizisten und plünderten Geschäfte – was läuft denn da aus Sicht eines Alkoholforschers schief?
Eigentlich alles. Alkohol auf öffentlichen Flächen ist im Grunde eine ganz schlechte Angelegenheit. Baden-Württemberg hatte ja einmal die Verfügbarkeit von Alkohol eingeschränkt, das ist jetzt aber nicht mehr der Fall. Und wenn dann Alkohol in großen Mengen jederzeit verfügbar ist, dann passiert genau das, was ich eben sagte: Es kommt aus einer leichten Partylaune, man überschätzt sich, man wird aggressiv, man macht Dinge, die man vielleicht schon immer machen wollte – und das sehr viel leichter, man wird zügellos. Und das hat man in Stuttgart deutlich gesehen, dass alles grenzenlos wird.
Wäre ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen und Straßen sinnvoll?
Ich glaube, es wäre sinnvoll – man muss überlegen, wo man das am besten macht. Und: Eine Verfügbarkeit von 24 Stunden am Tag für Alkohol halte ich für falsch. Es gibt Beispiele aus Skandinavien, wo das nicht der Fall ist, wo die Kriminalität dann runtergegangen ist. Das war übrigens auch in Baden-Württemberg der Fall, die ist dann wieder angestiegen. Kurzum: Von 22 bis 6 Uhr sollte man keinen Alkohol kaufen können – und an Tankstellen gar nicht. Dort sollte man nur das Auto betanken, nicht sich selbst. Das halte ich für ganz falsch.
Sie sprachen es eben an: Die schwarz-gelbe Landesregierung verfügte 2010 ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot, das dann die grün-schwarze Landesregierung 2017 wieder aufhob. War diese Rücknahme der Anfang allen Übels?
Was ich gelesen habe, war es wohl so, dass die Aggressivität und die Kriminalität deutlich wieder zugenommen hat, nachdem der Alkohol wieder frei verfügbar war.
Wann fangen Jugendliche eigentlich an zu trinken?
In Deutschland liegt das Einstiegsalter bei 13, 14 Jahren. Viele trinken dann sehr stark, bis sie ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen …
… wobei die Zahl der Komatrinker ja stark zurückgegangen sein soll?
Wenn Sie aber schauen, wie auf der Neckarwiese hier in Heidelberg gefeiert wird, sind das groteske Szenen, die Sie da sehen. In Zahlen ausgedrückt, scheint es im Alter zwischen 13 und 18 Jahren in der Tat zurückgegangen zu sein, zwischen 18 und 21 Jahren nahm der Alkoholkonsum dagegen zu. Ob man diesen Daten so trauen kann, ist jedoch fraglich.
Welche Risiken bringt der frühzeitige Alkoholkonsum mit sich?
Zum einen werden diese Menschen, wenn sie früh anfangen zu trinken, als Erwachsene eher abhängig. Zum zweiten formiert sich das Gehirn im Jugendlichenalter erst noch – Menschen, die zwischen 13 und 20 viel trinken, haben ein deutlich verändertes Sozialverhalten. Und drittens erhöht sich die Gefahr, 20, 30 Jahre später einen Krebs zu entwickeln, signifikant. Das wissen wir zum Beispiel vom Brustkrebs.
Allerdings geht mit dem Trinken auch oft das Rauchen einher?
Da haben Sie Recht. Erstaunlicherweise werden beim Rauchen und Trinken wohl die selben Suchtrezeptoren angesprochen, deshalb ist es für einen Alkoholforscher sehr schwierig, Menschen zu finden, die trinken, aber nicht rauchen. Ich habe im Rahmen meiner Arbeit vielleicht zehn bis 15 Menschen getroffen, auf die das zutraf, aber hunderte, die beides taten: rauchen und trinken.
Wie hoch ist dann das Krebsrisiko?
Etwa beim Speiseröhrenkrebs ist das Risiko um 40- bis 50-fach erhöht, wenn jemand täglich 20 Zigaretten raucht und eine Flasche Wein trinkt.
Welche Gruppe macht Ihnen eigentlich mehr Sorgen: die gewaltbereiten Jungen oder die isolierten Älteren, die im Zuge der Coronakrise mehr trinken?
Bei den Älteren hat man dieses Risiko früher nicht sehr ernst genommen. Aber gerade in Heimen wird nachweislich getrunken und Ältere bauen den Alkohol auch schlechter ab, vertragen ihn deshalb schlechter. Wenn dann noch Medikamente dazukommen, kann es auch vermehrt zu Unfällen, Knochenbrüchen und dergleichen kommen.
Woran merkt man, ob man zuviel trinkt?
Da gibt es einen sehr praktischen Test, den Cage-Test. Er besteht aus vier Fragen: 1. Hast Du jemals versucht, Deinen Alkoholkonsum zu reduzieren? 2. Warst Du jemals erneut verärgert darüber, dass Dich jemand auf Deinen Alkoholkonsum angesprochen hat? 3. Hast Du Dich jemals schuldig gefühlt, dass du zuviel getrunken hattest? 4. Brauchst Du Alkohol am Morgen, um in die Gänge zu kommen? Wenn Sie zwei dieser Fragen bejahen, besteht eine klare Alkoholabhängigkeit. Bei einer positiven Antwort sollte man nachprüfen, ob da etwas ist.
Wobei ich sicher bin, dass die erste Frage, ob man je versucht habe, den Alkoholkonsum zu reduzieren, jeder bejahen würden – alleine im Rahmen der Fastenzeit?
Trotzdem wäre es in diesem Fall eine gute Idee, mit dem Hausarzt das Thema einmal anzusprechen. Der kann dann über das Blutbild die Leberwerte kontrollieren, die Harnsäure messen oder die Größe der roten Blutkörperchen messen – die sollten nämlich nicht allzu groß sein. Mit einem geschärften Problembewusstsein kann man dann seinen Alkoholkonsum verändern, wenn aber jemand täglich eine Flasche Whiskey trinkt, dann ist das ein Fall für eine Entgiftung und einen Entzug, das geht ohne professionelle Hilfe und ohne stationäre Aufnahme nicht. Es ist übrigens nie zu spät. Ich kenne viele Fälle, wo jemand zehn Therapien oder mehr gemacht hat und dann doch wegkam vom Alkohol. Das ist dann ein wunderbarer Erfolg, bei dem die Menschen sehr dankbar sind, dass sie es geschafft haben. Es ist eine schwere Krankheit, an der alleine in Deutschland 1,6 bis 1,8 Millionen Menschen leiden.
Der man aber entfliehen kann, wie wir erfreulicherweise am Schluss erfahren können?
Der Optimismus stirbt nie. Selbst bei einer schweren Lebererkrankung im fortgeschrittenen Stadium hilft es, die Alkoholabhängigkeit zu besiegen, weil Sie dadurch wieder Lebensqualität gewinnen.