Von Matthias Kehl
Heidelberg/Berlin. Die Politikwissenschaftlerin Astrid Sahm (52) ist Geschäftsführerin des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks in Berlin und Expertin für Osteuropa.
Frau Sahm, der Protest in Belarus gegen Machthaber Alexander Lukaschenko hat seit der manipulierten Präsidentenwahl im August das ganze Land erfasst. Trotzdem ist Lukaschenko noch im Amt, regiert mit roher Gewalt. Ist der Aufstand gescheitert?
Nein, es handelt sich um eine politische Patt-Situation in Belarus. Lukaschenko, auf den das System seit nunmehr 26 Jahren zugeschnitten ist, agiert wie ein autoritärer Vormund der Gesellschaft. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung ist damit nicht länger einverstanden, wünscht sich Neuwahlen – und vor allem ein anderes Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Die Motive sind so grundlegend, dass sie nicht mit Gewalt zu unterdrücken sind.
Bei diesem Patt stellt das Unentschieden niemanden zufrieden. Warum gelingt es den Widersachern nicht, Lukaschenko schachmatt zu setzen?
Das Problem ist, dass die Protestbewegung überhaupt keine institutionellen Hebel hat, um Veränderungen herbeizuführen. Die Opposition ist im System nicht vertreten. Nicht im Parlament, nicht in den Kommunen. Jeder Bürgermeister, jeder Richter wird auf Verwaltungsebene von Lukaschenko eingesetzt. Und wer sich mit der Protestbewegung solidarisiert, wird entlassen.
Dieses System hält seit über zweieinhalb Jahrzehnten. Warum kommt es gerade 2020 zum Aufstand?
Zunächst einmal ist eine aufgeschlossene Generation herangewachsen, die Kontakt und Erfahrungen im Ausland hat – und somit vergleichen kann. 2020 verspielte Lukaschenko durch seinen verharmlosenden Umgang mit der Corona-Pandemie das Vertrauen vieler fundamental. Es gab keine offene Informationspolitik zum Schutz der Bürger. Diese organisierten großteils eigenständig die Stabilisation des Gesundheitssystems. Über die entstandenen Netzwerke, die dezentral übers Land reichen, wurden nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im August die Proteste getragen.
Millionen im In- und Ausland solidarisieren sich mittlerweile mit der Opposition in Belarus. War das zu erwarten?
Dieser Protest ist für viele wie eine Geburt der Nation. Er wirkt identitätsstiftend und bildet eine historische Zäsur. Das Selbstbild der Menschen hat sich verändert. Die Veränderungswilligen sehen, dass sie viele sind. Das stärkt ihr Selbstvertrauen. Der Protest zieht sich durch alle Altersgruppen und alle soziale Schichten. Auch Promis und Gutverdiener sind Motoren des Protests. Zu letzteren zählen zum Beispiel auch IT-Spezialisten, die durch ihre Arbeit Lukaschenkos Wahlfälschungen aufdeckten und anschließend für die breite Öffentlichkeit transparent machten.
Nichtsdestotrotz ist Lukaschenko noch Präsident. Wer hält in Belarus zu ihm?
Insbesondere Landbewohner über 60 sowie Angehörige des Staatsapparats. Die rigoros vorgehenden Sicherheitskräfte etwa sind materiell sehr gut gestellt. Es gab zwar unter dem Eindruck der Gewalttaten einige Kündigungen im Kultur- und Medienbereich sowie im Außenministerium. Aber darüber hinaus wirkt sein System insgesamt noch stabil.
Halten die älteren Landbewohner und die Treuen aus dem Staatsapparat dem Machthaber also dank Geld und Schutz die Treue?
Auch Angst, als Verräter wahrgenommen zu werden, spielt eine große Rolle. Die, die aus dem Staatsdienst ausscheiden, werden von Lukaschenko noch stärker bestraft. Er versucht unentwegt, die Protestbewegung zu diffamieren, indem er Teilnehmende abfällig als "Drogenabhängige" oder "Prostituierte" bezeichnet. Hinzu kommt die ungewisse Perspektive, welche Rolle sie in einem Post-Lukaschenko-Belarus einnehmen. Vielen denken, dass ihre Kompetenzen gar nicht ausreichend sind für ihre zukünftigen Anforderungen. Andere, wie die Sicherheitskräfte, fürchten ob ihres Vorgehens Strafverfolgung.
Eine "Meuterei" gegen Lukaschenko schließen Sie aus?
Die Wahrscheinlichkeit dafür ist eher gering. Dazu müssten sich im Staatsdienst genügend Menschen finden, die sich offen für eine Verhandlungslösung zeigen und sich trauen, diese an Lukaschenko vorbei einzuleiten.
Gibt es ein Ausstiegsszenario für den Präsidenten?
Er schließt das für sich aus. Das macht das Ganze so schwer. Alle friedlichen Ausstiegsszenarien wurden verpasst.
Wer könnte Belarus alternativ führen?
Alle potenzielle Führungsfiguren hatten gar nicht erst die Möglichkeit, sich zu etablieren. Sie wurden entweder ins Ausland gedrängt oder verhaftet. Wenn es zu freien und fairen Wahlen kommen sollte, könnten sich aber schnell neue Kräfteverhältnisse bilden. Wer sich da hervortun könnte, lässt sich momentan nicht seriös sagen.
Kann jemand im Land zwischen der Opposition und Lukaschenko vermitteln?
Alle Versuche sind bisher gescheitert. Hoffnungen auf eine mögliche Mittlerrolle der Kirchen haben sich nicht erfüllt. Die katholische gilt als Konfliktpartei auf Seiten der Protestbewegung, die orthodoxe ist gespalten und unter anderem aufgrund ihrer Verbindungen zu Russland zurückhaltend.
Hängt die Zukunft Lukaschenkos davon ab, ob ihm sein "großer Bruder" Wladimir Putin weiter die Treue hält?
Zu einem sehr großen Teil ja. Je länger der Protest andauert, desto höher werden die Kosten für den Kreml. Sowohl wirtschaftlich als auch politisch.
Inwiefern?
Für Putin ist es wichtig, dass im Nachbarland keine Protestbewegung erfolgreich ist. Auch seine Zustimmungswerte in Russland schmelzen. Und 2024 wird gewählt.
Und wirtschaftlich?
Mit der politischen Krise bleiben auch die wirtschaftlichen Probleme akut. Für Belarus selbst, aber auch für Russland. Die Bezahlung der Sicherheitskräfte, die Unterhaltung der massiv überfüllten Gefängnisse, das unter Druck geratene Gesundheitssystem während der Pandemie: das alles ist teuer. Und wird von Russland mitfinanziert.
Ist es denkbar, dass der Kreml auf die Opposition eingeht?
Der Kreml ist nicht glücklich mit Lukaschenko. Und weiß, dass weitere Solidarität mit ihm die Proteste nur noch verstärkt. Je länger die politische Patt-Situation anhält, desto größer ist die Chance der Protestbewegung, dass der Kreml mit der Opposition verhandelt. Im postsowjetischen Raum hat Russland spätestens seit dem Fall Nawalny zu viele Probleme.
Inwiefern kann die Europäische Union bei einer Lösung des Konflikts mitwirken?
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) warb erfolglos um Vermittlung. Auch Angela Merkel hat es vergeblich versucht. Der Westen hat nur begrenzten Einfluss.
Die EU verhängte Sanktionen gegen den belarussischen Machthaber. Wie bewerten Sie das?
Die Präsidentenwahl vom August nicht anzuerkennen, war eine sehr klare Ansage. Mit den Sanktionen wurde lange gewartet. Zum einen, um Russland nicht zu einer direkten Intervention zu provozieren. Zum anderen, um die Protestbewegung nicht zu schwächen, indem man sie als "vom Westen angetrieben" darstellt. Das Motiv, vermitteln zu wollen, war glaubwürdig. Der Schritt zu wirtschaftlichen Sanktionen ist aus EU-Sicht nun unausweichlich.
Hat die Protestbewegung noch genügend Kraft, um langfristig durchzuhalten?
Natürlich gibt es Ermüdungserscheinungen und durch die rohe Gewalt der Sicherheitskräfte oder das erhöhte Strafmaß auch einen gewissen Einschüchterungseffekt. Einen Stimmungswandel gibt es jedoch keineswegs. Je länger die Patt-Situation andauert, desto schwieriger wird für Lukaschenko eine Rückkehr zum Status quo. Die allermeisten sind bereit, mit ihrem Protest bis zum Ende zu gehen.