Sozialabbau in Italien per SMS
Die rechte Regierung greift den Wohlfahrtsstaat an. Melonis Bündnis sitzt derzeit fest im Sattel, aber ist nicht frei von Widersprüchen.

Von Joris Ufer
Heidelberg. Am 28. Juli vibrieren in Italien Hunderttausende Smartphones zur selben Zeit. Die SMS, die auf den Displays erscheint, wirkt für viele Betroffene wie eine Katastrophenwarnung: Den "reddito di cittadinanza" (deutsch: Bürgergeld) werden sie künftig nicht mehr erhalten. Mit der Beschränkung dieser Sozialhilfe macht Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein Wahlversprechen wahr. Doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich auch die Widersprüche ihres extrem rechten Bündnisses.
Rund 1,1 Millionen Menschen bezogen bis vor Kurzem die Sozialleistung in Höhe von bis zu 780 Euro im Monat. Für über 169.000 Haushalte fällt diese Unterstützung nun weg. Anspruch haben ab jetzt nur noch Haushalte, in denen Minderjährige, Menschen mit Behinderung oder Senioren über 65 leben. Weitere Kürzungen sind angekündigt, Alternativen nur in geringem Maß geplant.
Vertreter der größten Gewerkschaft Italiens, der "Confederazione generale italiana del lavoro", nannten den Schritt eine "soziale Bombe". Doch Meloni war der Reddito lange ein Dorn im Auge. Im Wahlkampf warben fast alle rechten Parteien für die Abschaffung des Bürgergeldes; es sei ein Anreiz, nicht zu arbeiten.
Auch die Partei "Lega" von Vize-Premier Matteo Salvini schloss sich diesem Narrativ an – obwohl sie die Sozialleistung als Teil der Regierung Conte 2019 selbst mit eingeführt hatte.
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Komplett von der Hand zu weisen sind die Vorwürfe nicht, weiß auch Aurora Caliendo, Koordinatorin bei der privaten neapolitanischen Hilfsorganisation "Fondazione Massimo Leone". "Es hat auch Leute gegeben, die sich auf das Bürgergeld verließen und gar nicht erst nach Arbeit gesucht haben", so Caliendo im Gespräch mit der RNZ. "Aber für die meisten war es eine echte Hilfe." Auch psychisch kranke Menschen hätten ihre Ansprüche verloren. Zudem könnten viele in die Obdachlosigkeit abgleiten.
Caliendos Stiftung, die auch bei der Arbeitssuche hilft, wird seit der umstrittenen SMS mit Anfragen überhäuft. Rund 20 Prozent der Menschen in Neapel bezogen das Bürgergeld. Caliendo erklärt: "Neapel ist eine sehr komplizierte Stadt. Wirtschaftlich befindet sie sich in einer schwierigen Situation, da es keine großen Industrien gibt. Während in Norditalien – wie im übrigen Europa – ein Mangel an Fachkräften herrscht, ist die Situation hier im Süden anders."
Wer einmal seine Arbeit verliere, habe in vielen Fällen kaum eine Chance, wieder eine neue zu finden. So kam es auch vor allem in Süditalien zu spontanen Protesten, als die Nachricht über die Kürzung kam. Auf Sizilien stürmte ein arbeitsloser Mann in Terrasini in das Büro des Bürgermeisters, vergoss Benzin und drohte, es in Brand zu setzen. Er konnte gerade noch gestoppt werden.
Ob die Proteste aber Melonis Chancen auf eine Wiederwahl schaden könnten, ist aktuell schwer absehbar. Schließlich gab es für die Beschränkung des Reddito durchaus auch Zustimmung, wie Andrea De Petris erklärt. Der Politologe ist wissenschaftlicher Direktor am "Centrum für Europäische Politik" in Rom. "Die Parlamentswahlen hatten wir im Oktober vergangenen Jahres und – wenn nichts dazwischen kommt – sind die nächsten erst in vier Jahren", führt er aus. "Es ist also schwer zu sagen, wie sehr die aktuellen Entwicklungen das Wahlergebnis dann noch beeinflussen." Ein Stimmungsbild könne die Europawahl 2024 liefern.
Caliendo berichtet, dass sich die Meinung der Neapolitaner über Meloni mittlerweile sehr verschlechtert habe: "Ich glaube nicht, dass sie hier im Moment viele Unterstützer hat", sagt sie. "Mit der Abschaffung des Bürgergeldes könnte sich die Lebenssituation vieler Menschen deutlich verschlechtern."
In aktuellen Umfragen steht Melonis Partei "Fratelli d’Italia" mit knapp 30 Prozent jedoch gut da und belegt weiterhin die Spitzenposition. Mit Maßnahmen gegen Abtreibung, Migration und die LGBTQ+-Gemeinschaft scheint Meloni einen Nerv bei vielen Wählern zu treffen.
Doch wie steht die Regierung international da? Schließlich hatte der euroskeptische Kurs der Rechten im Wahlkampf für Besorgnis in den Nachbarländern gesorgt. "Meloni war sehr klug", konstatiert De Petris. "Als sie ihr Amt angetreten hat, bekannte sie sich sofort zu den Grundstrukturen von EU und Nato und bekräftigte auch Italiens Unterstützung für die Ukraine." Deswegen sie sei aber keine Pro-Europäerin geworden.
Problematisch sieht der Politologe besonders Melonis Einfluss auf europäische Migrationspolitik. "Das ist ein typisches Thema für Italien, da man hier lange mit den hohen Flüchtlingszahlen alleingelassen wurde", sagt er. "Doch gerade jetzt, wo es in der EU um die Schaffung eines gemeinsamen Systems zur Verteilung geht, unterstützt sie weiter die größten Gegner eines solchen Schritts: Viktor Orban in Ungarn und Mateusz Morawiecki in Polen." Hier zeigten sich die Widersprüche der Rechtspopulisten.
Gerade erst gelang Meloni ein politischer Coup: Auf ihr Drängen schlossen die EU und Tunesien im Juli eine Absichtserklärung, um Migration über das Mittelmeer einzuschränken. Das autokratisch geführte Land steht seit Langem wegen seines Umgangs mit Geflüchteten in der Kritik. "Ich finde es persönlich hochproblematisch, dass sich die EU trotz dieser Menschenrechtskrise und der Situation im Mittelmeer auf die Forderungen Melonis zubewegt", sagt De Petris.
In Italien wirbt die Rechtspopulistin derweil mit vermeintlich einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Doch es ist zweifelhaft, ob sie so die Armut und das starke Nord-Süd-Gefälle in den Griff kriegen kann. "Es muss sich strukturell etwas ändern. Vor allem ist es wichtig, Bildungschancen für junge Menschen zu schaffen", sagt Caliendo. De Petris sieht das ähnlich: "Es geht nicht nur darum, dass der Staat Geld verteilt. Es geht hier um Schulen, um Ausbildung und um die generelle soziale Infrastruktur, die grundsätzliche Reformen bräuchte."