"Das ganze Land wird von jüdischen Siedlern besetzt"
Der palästinensische Pastor Mitri Raheb geht mit Israel ins Gericht – und mit der deutschen Haltung.

Von Michael Abschlag
Heidelberg. Mitri Raheb ist palästinensischer Christ und Pastor an der Weihnachtskirche in Jerusalem. Seit 2010 leitet er das von ihm gegründete Dar al-Kalima University College of Arts and Culture in Bethlehem. Der Autor mehrerer Bücher im Palmyra Verlag (zuletzt "Betlehem 2000") gilt als wichtige Stimme der Christen im Nahen Osten – steht aber wegen seiner israel-kritischen Position auch immer wieder in der Kritik.
Herr Raheb, Sie leben und arbeiten in Jerusalem und im Westjordanland. Wie haben Sie die jüngste Gewalteskalation zwischen Israel und der Hamas in Gaza erlebt?
Wir hatten viele Menschen, die davon betroffen waren, auch hier in Jerusalem. Zwei meiner Studenten wurden verhaftet von den israelischen Soldaten, zwei weitere wurden bei den Angriffen verwundet. Wir haben auch eine Filiale in Gaza, und da war die Lage noch schlimmer, weil die Angriffe sich vor allem gegen Gaza richteten. Dort haben wir Studenten, die durch die israelischen Bombardierungen Angehörige verloren haben. Einige von ihnen haben ihre Häuser verloren und sind jetzt obdachlos, und viele sind traumatisiert.
Wie ist jetzt die Lage? Hält die Waffenruhe, oder ist es zu neuen Kämpfen gekommen?
Wir haben jetzt tatsächlich eine Feuerpause, Kämpfe gab es keine mehr. Aber die Menschen sind alle noch im Schockzustand. Sie sehen die Folgen der Bombardierungen, durch die viele ihre Häuser verloren haben. Auch die Traumata sind noch sehr groß, vor allem natürlich bei den Kindern, aber auch bei den Erwachsenen.
Wie bewerten Sie denn den jüngsten Konflikt?
Die israelische Politik, aber auch die Politik der internationalen Gemeinschaft, führt immer wieder zu solchen Situationen. Was die aktuelle Situation ausgelöst hat, war der Versuch die Vertreibung von Palästinensern aus ihren Häusern im Viertel Sheikh Jarrah. Die sollen von jüdischen Siedlern besetzt und ihnen dann zugesprochen werden. Und es sind ja nicht nur diese Häuser: Das ganze Land wird von jüdischen Siedlern besetzt. Den Palästinensern bleibt nur noch wenig Land übrig. Das ertragen die Leute natürlich nicht. Die zweite Ursache war die Provokation während des Fastenmonats Ramadan. In Ostjerusalem, bei der Al-Aqsa-Moschee, wurden junge Leute schikaniert, sie durften nicht in die Moschee. Das hat natürlich zum Ausbruch von Gewalt geführt. Und drittens haben wir die Blockade von Gaza, wo die Menschen sich nicht frei bewegen können. Der Gazastreifen wurde praktisch in ein großes Gefängnis verwandelt. Die Menschen dort haben keine Perspektive, und das sorgt für Wut und Unzufriedenheit. Das ist das Ergebnis der israelischen Politik.
Und was werfen Sie der internationalen Politik vor?
Die internationale Politik sieht so aus: Solange im Nahen Osten Ruhe herrscht, gehen alle in ihren Dornröschenschlaf, auch Deutschland. Wenn die Lage eskaliert, kommen sie nur, um für Ruhe zu sorgen, aber nicht, um die Ursachen zu bekämpfen. Das ist das Problem. Die Ursache ist die Siedlungspolitik Israels, die nicht nur eine Zwei-Staaten-Lösung verhindert, sondern ein System der Apartheid schafft. Und das sage nicht ich, sondern israelische Menschenrechtsorganisationen. Wer ein Moslem ist, oder auch ein arabischer Christ, wird benachteiligt, und das sowohl in den besetzten Gebieten als auch inzwischen auf der anderen Seite der grünen Grenze, im israelischen Kernland.
Jetzt üben Sie scharfe Kritik an Israel. Aber gibt es nicht auch Fehler auf palästinensischer Seite, bei der palästinensischen Führung?
Natürlich gibt es die. Dazu gehört etwa auch die Uneinigkeit zwischen Fatah und Hamas, die jetzt wieder klar zu sehen war. Und natürlich auch die Politik von Hamas. Auch, dass Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas die Wahlen abgesagt hat, ist ein Problem. Die Menschen dort haben seit 15 Jahren nicht mehr gewählt! Das hat natürlich auch für Unmut gesorgt.
Was müsste denn Ihrer Meinung nach geschehen, damit es im Nahen Osten zu einer wirklich dauerhaften Friedenslösung kommt?
Man muss die grundlegenden Probleme angehen, und dazu gehört die israelische Siedlungsideologie. Sie muss wirklich gestoppt werden, ansonsten wird man nicht vorankommen. Die internationale Gemeinschaft muss es wirklich ernst meinen mit Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten. Auch die deutsche Politik ist da gefordert. Sie sollte sich nicht so schnell und eindeutig auf die Seite Israels schlagen, wie das in den letzten Tagen passiert ist, sondern eher versuchen, eine Rolle als Vermittler einzunehmen. Sonst wird es keine Friedenslösung im Nahen Osten geben.