"Von Kindern profitiert, wer keine hat"

Jürgen Borchert über die Verhandlung vorm Bundessozialgericht über familiengerechte Sozialbeiträge - Weniger Abgaben für Eltern?

29.09.2015 UPDATE: 30.09.2015 06:00 Uhr 2 Minuten, 11 Sekunden

Jürgen Borchert. Foto: dpa

Jürgen Borchert über die Verhandlung vorm Bundessozialgericht über familiengerechte Sozialbeiträge - Weniger Abgaben für Eltern?

Von Alexander R. Wenisch

Heidelberg. Dieser Mittwoch ist ein wichtiger, ein spannender Tag für alle Eltern im Land. Vor dem Bundessozialgericht Kassel wird eine Klage dreier Familien aus Freiburg verhandelt. Sie beschweren sich, weil Eltern hierzulande zu viele Sozialabgaben zahlen; wollen den Gang vors Verfassungsgericht. Jürgen Borchert (Foto: dpa), der ehemalige Sozialrichter aus Heidelberg, der die klagenden Familien seit Jahren juristisch berät und begleitet, erklärt die Hintergründe.

Herr Borchert, was ist das Grundproblem, weshalb geklagt wird?

Alles, was Rentner zum Leben erhalten - Altersversorgung, Gesundheitsversorgung und Pflege - muss die Nachwuchsgeneration erwirtschaften. Deshalb ist die Kindererziehung nicht weniger wert, als die Zahlung der Rentenbeiträge. Das hat das Verfassungsgericht 2001 am Beispiel der Pflegeversicherung festgestellt und den Gesetzgeber verpflichtet, das bis 2005 in Ordnung zu bringen, indem die Pflegebeiträge je Kind ermäßigt werden.

Das war der einzige Auftrag?

Eben nicht. Der Gesetzgeber sollte Renten- und Krankenversicherung prüfen. 2005 wurden aber nur die Pflegebeiträge für Kinderlose um 0,25 Prozentpunkte erhöht. Wieder einmal wurde ein familienpolitischer Reformauftrag aus Karlsruhe schlicht in die Schubladen versenkt. Deshalb wollen die Kläger die Frage erneut vor das Verfassungsgericht bringen.

Warum zahlen Eltern zu viel?

Weil sie mit ihrer Kindererziehung auf Privatkosten zugleich die Altersvorsorge für ihre kinderlosen Jahrgangsteilnehmer auf die Beine stellen. Als man das Rentensystem 1957 neu schuf und den Rentnern - ohne vorherige Gegenleistung - über Nacht lohnersetzende Renten auszahlte, sah das Konzept eigentlich vor, auch den Kindesunterhalt in Gestalt einer "Kindheitsrente" zu sozialisieren. Diesen Teil der Reformkonzeption hat Kanzler Adenauer torpediert. Seitdem profitiert von Kindern, wer keine hat.

Wie hat sich das ausgewirkt?

Weil der Anteil der Kinderlosen unter den Rentnern sich seit den 50ern mehr als verdoppelt hat, steigen die Sozialversicherungsbeiträge entsprechend. Für Eltern haben diese seit Jahrzehnten steigenden Beitragslasten, die keine Rücksicht auf die Kinderzahl nehmen, finanziell regelrecht strangulierende Wirkung. Eine Familie mit zwei Kindern und einem 35 000 Euro-Durchschnittsgehalt landet wegen des gewaltigen Abgabenkeils deshalb netto unter dem Existenzminimum. Zwischen Eltern und Nichteltern ist so über die Jahrzehnte ein großes Gerechtigkeitsproblem gewachsen.

Wie würde eine Normalverdiener-Familie monatlich profitieren, würde die Kinderzahl bei der Beitragsbemessung berücksichtigt?

Bei derzeit 7008 Euro im Jahr und Beitragssätzen für die drei Systeme von rund 35 Prozent kämen locker über 200 Euro pro Monat und Kind zusammen - und zwar für alle gleich, weil die Sozialversicherung im Unterschied zur Steuer ja keine Progression kennt, sondern "linear-proportional" belastet.

Hat die Ungerechtigkeit im System Ihrer Ansicht nach Auswirkung auf die Geburtenrate in Deutschland?

Damit haben sich in den letzten Jahren mehrere Studien beschäftigt und sind einhellig zu genau dem Ergebnis gekommen: Die Anreize, Kinder zu bekommen, sind in einem System wie dem unsrigen ökonomisch wie psychologisch eindeutig negativ. Das haben die Reformväter schon nach dem Adenauer-Murks 1957 vorhergesagt und das erklärt auch, weshalb Deutschland im Vergleich zu vielen Nachbarländern so besonders weit hinten liegt.

Rechnen Sie damit, dass die Klage nach Karlsruhe weitergereicht wird?

Ja, sicher! Erstens haben die Kläger inzwischen von der Wissenschaft Schützenhilfe erhalten. Die Gutachten, die der Gesetzgeber seit 2001 verweigerte, liegen vor und untermauern die Berechtigung der Klagen. Da müssten die Richter in Kassel also schon mehr als "nur" wissenschaftlich unredlich sein. Zudem nehmen inzwischen über 1000 Väter und Mütter am von Familienverbänden initiierten "Elternaufstand" teil und haben seit Anfang 2015 in Massen den Klageweg beschritten. Die Richter können also nicht mehr damit rechnen, sich mit einer zurückweisenden Entscheidung für weitere zehn Jahre Ruhe zu verschaffen.