Barbara Lochbihler zur Situation der Sinti und Roma in Europa
Die 62-Jährige war von 2009 bis 2019 grüne Europaabgeordnete mit dem Schwerpunkt Menschenrechte. Hier spricht sie im RNZ-Interview

Von Michael Abschlag
Heidelberg. Barbara Lochbihler war von 2009 bis 2019 grüne Europaabgeordnete mit dem Schwerpunkt Menschenrechte. Heute erhält sie den Kultur- und Ehrenpreis des Verbands Deutscher Sinit und Roma.
Frau Lochbihler, der Papst hat letzte Woche eine Sinti-und-Roma-Siedlung in Slowenien besucht. Die Umstände dort sind prekär, die Menschen leben in heruntergekommenen Plattenbauten. Ist das repräsentativ?
Ja. Die Sinti und Roma sind die größte Minderheit in Europa, und sie haben erschreckende, entsetzlich schlechte Lebensbedingungen. Dazu gehört auch die Wohnsituation. Die Siedlungen sind nicht alle so heruntergewirtschaftet. Aber es gibt auch welche, wo es noch schlimmer ist. Viele der Siedlungen sind am Stadtrand und schlecht angebunden. Oft gibt es keine Frischwasserversorgung und keine Kanalisation. Viele Häuser sind nicht einmal aus Stein gebaut. Häufig kümmern sich die Kommunen nicht darum. In Ungarn habe ich einmal mit meiner Fraktion eine Siedlung besucht, und wir haben festgestellt: Dort, wo die Ungarn wegziehen, ziehen die Roma ein. Letztlich braucht es da beides: Die Kommunen müssen sich kümmern, und die Roma müssen stärker ihre Rechte einfordern. In meiner Zeit im Europaparlament habe ich immer wieder Abgeordnete getroffen, den den Sinti und Roma selbst die Schuld zuweisen. Aber das Problem sind die Strukturen, die man geschaffen hat.
Wie sieht es mit Bildungschancen aus?
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Der Zugang zu Bildung ist unterschiedlich. Theoretisch können alle in die Schule gehen, aber oft tun sie das nicht, weil sie weit außerhalb wohnen, weil es keine Schulbusse gibt, weil es keine soziale Arbeit gibt, die das fördert. Auch wenn es eine Schulpflicht gibt, wird sie oft nicht eingehalten. Ich habe das selbst gesehen in einer ungarischen Schule, nicht weit weg von Budapest: Da hat die Lehrerin für die Roma-Kinder einen eigenen Lehrplan geschrieben, weil sie angeblich nicht den normalen Lehrstoff schaffen. Das stimmt natürlich nicht. Aber die Folge ist, dass man diesem Abschluss nicht einmal eine Lehre machen kann. Manchmal gibt es auch in den Roma-Gruppierungen hierarchische Strukturen, die den Schulbesuch verhindern. Das sind die größten Probleme: Die Wohnsituation und der fehlende Zugang zu Bildung.
Hat die Diskriminierung und Ausgrenzung zugenommen?
Das ist schwer zu vergleichen. Ein großer Einschnitt, was die Armut und das Elend angeht, war der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten. Da gab es eine Schulpflicht, die durchgesetzt wurden. Es gab auch Wohnprogramme. Im ehemaligen Jugoslawien sprechen sie oft in Witzen und fragen: "Bist Du ein Roma vor und nach Milosevic?" Davor hatten sie mehrheitlich eine Schulbildung und Zugang zu Arbeit. Heute sehen wir in ganz Europa eine Zunahme an Staatenlosigkeit. Die Kinder werden immer öfter nicht im Melderegister erfasst, und damit können sie später etwa auch keinen Antrag auf Sozialhilfe stellen. Auch der Hass und die Gewalt nehmen zu. In Ungarn gab es das Phänomen, dass sich der Staat in bestimmten Randgebieten zurückgezogen hat und die rechtsextreme Jobbik-Partei staatlich-polizeiliche Aufgaben übernommen und gegen die Roma gehetzt hat. Das ist zwar besser geworden, aber die staatlichen Institutionen verdächtigen im Zweifel immer die Roma.
In Tschechien gab es den Fall eines Angehörigen der Roma, der von Polizisten getötet wurde.
Es gibt einen ganz starken Rassismus gegen die Roma. Den gibt es auch in Westeuropa. Aber in Osteuropa, wo sie eine sehr schwache soziale Stellung haben, ist es noch einmal schlimmer. Dass es nach diesem Fall keinen gesellschaftlichen Aufschrei gab, ist auch bezeichnend.
Sie sprachen Westeuropa an. Sehen Sie auch da Missstände und Versäumnisse?
Die Lebensbedingungen in den Staaten sind sehr unterschiedlich. In Frankreich hat jede Gemeinde Plätze, wo die Sinti und Roma, die keinen festen Wohnsitz haben, leben dürfen, und sie haben dort Strom und Wasser. Allerdings gab es 2010 unter Nicolas Sarkozy große Polizeirazzien an solchen Plätzen. Er hat behauptet, sie wären illegal da, und hat sie medienwirksam von der Polizei zusammentreiben lassen und abgeschoben. Aber von einzelnen Roma- und Menschenrechtsgruppen abgesehen, die protestierten, hatte Sarkozy dabei die schweigende Zustimmung der Mehrheitsgesellschaft. In Deutschland gab es vor ein paar Jahren in Nordrhein-Westfalen, in der Nähe von Köln, Proteste gegen den Zuzug von Roma aus Bulgarien und Rumänien. Horst Seehofer unterstellte ihnen pauschal Sozialbetrug und plädierte dafür, die Leute abzuschieben.
Was kann denn die EU tun, um die Situation zu verbessern?
Man hat im Rahmen der EU-Roma-Integrationsstrategie schon einzelne Verbesserungen erreicht. Man hat aber auch festgestellt, dass Roma bei der Projektentwicklung stärker eingebunden werden müssen. Das gilt etwa beim Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Wohnungen, Bildung und Arbeit. Auch die EU-Förderungen der EU-Agrarpolitik und des ländlichen Raums müssen verbessert werden, denn dort leben und arbeiten viele Roma. Und es muss klar sein, dass das Geld aus Brüssel auch wirklich dort ankommt, wo es gebraucht wird.
