Romani Rose im Interview

Trotz der unheilvollen Geschichte: "Es ist ein gutes Gefühl, heute in Deutschland zu leben"

Romani Rose über modernen Antiziganismus und die Lehren aus dem Holocaust - Ein Interview aus Anlass des 75. Geburtstags des Vorsitzenden des Zentralrats

18.08.2021 UPDATE: 20.08.2021 06:00 Uhr 7 Minuten, 10 Sekunden
Im Mai fand die virtuelle Verleihung des Europäischen Bürgerrechtspreises an Angela Merkel statt. Damals bat die Bundeskanzlerin darum, dass der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, ihr den Preis in Berlin auch persönlich übergibt, sobald die Coronalage das zulässt – diese Woche war es so weit. Foto: Joe

Von Klaus Welzel

Heidelberg. Wenn heute Romani Rose seinen 75. Geburtstag feiert, dann wird dieser wesentlich bescheidener ausfallen als vor fünf Jahren. Damals kam selbst die Kanzlerin zum großen Festakt in Berlin, neben zahlreichen führenden Repräsentanten aus allen politischen Lagern, Verbänden und Institutionen. Sie alle würdigten einen Mann, der der Minderheit ein Gesicht gab, der in seiner über 40-jährigen Bürgerrechtsarbeit dieser Minderheit ihre "Würde" zurückgeben will. Vor drei Tagen überreichte der "Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma" Angela Merkel den "Europäischen Bürgerrechtspreis der Sinti und Roma", der alle zwei Jahre vom Dokumentations- und Kulturzentrum, dem Zentralrat und der Manfred-Lautenschläger-Stiftung vergeben wird. Ende April war die Kanzlerin damit im Mannheimer Rosengarten ausgezeichnet worden; coronabedingt in einer virtuellen Festveranstaltung. Die persönliche Übergabe in Berlin war ihr jedoch wichtig. Im Gespräch mit der Rhein-Neckar-Zeitung spricht Romani Rose über seine Erfolge der Vergangenheit, den Rassismus der Gegenwart und die Herausforderungen für eine friedliche Zukunft für alle Menschen.

Herr Rose, wie fühlt es sich an, im Jahr 2021 in Deutschland ein Sinto zu sein?

Es ist ein gutes Gefühl, Respekt und die Achtung zu erfahren und zu erleben, dass sich die Politik ihrer Verantwortung bewusst ist. Wie Sie wissen, war das nicht immer so. Da hat sich in den letzten Jahrzehnten Vieles getan.

Über 40 Jahre sind Sie jetzt in der Bürgerrechtsarbeit aktiv. Was würden Sie als Ihren wichtigsten Meilenstein bezeichnen?

Ganz spontan würde ich sagen, das war die Anerkennung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma 1982 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Wichtig ist aber auch das europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das erste völkerrechtlich verbindliche Schutzinstrument, das sich direkt auf die nationalen Minderheiten in den Mitgliedstaaten der EU bezieht. Die meisten Mitgliedsstaaten haben das Rahmenübereinkommen ratifiziert, das heißt als eigenes nationales Recht anerkannt. Darunter auch Deutschland unter Helmut Kohl. Bis es 1997 soweit war, gab es lange politische Auseinandersetzungen. Alle Parteien hatten damals zwar die Dänen, Sorben und Friesen im Blick, nicht aber die Sinti und Roma. Die wollten sie als europäische Minderheit klassifizieren, weil sie sich ihrer Verantwortung gegenüber dieser Minderheit noch immer nicht bewusst waren.

1980 organisierten Sie in der KZ-Gedenkstätte in Dachau einen Hungerstreik, 1982 kam die Gründung des Zentralrates, wenige Wochen später die Anerkennung des Völkermords. Wäre es ohne diese ersten Schritte auch dazu gekommen?

Das glaube ich nicht. Denn mit diesem Hungerstreik setzten wir für die nationale und internationale Öffentlichkeit ein Signal. Fünf Überlebende des Holocaust und sechs junge Menschen der Nachkriegsgeneration appellierten an das historische Gedächtnis Deutschlands. Es ging um die Glaubwürdigkeit unseres Staates. Unsere Entschlossenheit machte deutlich, dass der Völkermord an den Sinti und Roma, genau wie bei den Juden, aus rassistischen Gründen begangen wurde. Diese Anerkennung hatte uns die Politik Jahrzehnte verweigert. Wir waren nicht länger bereit, dies hinzunehmen.

Sie sagen, dass sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland Vieles getan hat. Dann steht ja alles bestens?

Es wäre mein größtes Geburtstagsgeschenk, wenn es denn so wäre. Aber den Veränderungen auf der politischen Bühne, dem hinken weite Teile der Gesellschaft noch hinterher. Hier begegnen uns noch immer Vorurteile, Ausgrenzung und Diskriminierung. Dass der gewaltbereite Rechtsradikalismus wieder salonfähig geworden ist, dass der Rassismus massiv wächst, das erfüllt mich mit großer Sorge.

Im tschechischen Teplice, unweit der deutschen Grenze, starb im Juni der 46-jährige Rom Stanislav Tomáš, nachdem ein Polizist sechs Minuten lang auf dessen Necken kniete. Wie reagierten die Roma in Tschechien auf den Fall?

Hier gab es Demonstrationen und die Forderung nach einer unabhängigen Kommission, die den Fall aufklären soll. Bisher ohne Erfolg. Auch Teile der Medien berichteten dort kritisch. Nur wenige Stunden nach dem Tod des Mannes hatten erst der Innenminister und dann der Staatspräsident die Polizisten in Schutz genommen. Ungewöhnlich schnell hatten sie erklärt, dass nicht die polizeilichen Maßnahmen, sondern der Drogenkonsum die Todesursache war.

Sie zweifeln daran?

Ich zweifele solange daran, bis eine unabhängige Kommission den Fall aufgeklärt hat. Das alles vor dem Hintergrund, dass die Lebenssituation der etwa 300.000 Roma, die dort als "schwarze" Tschechen bezeichnet werden, zum großen Teil katastrophal ist. Das ist für mich Apartheid mitten in Europa. Ich glaube nicht, dass die Polizei so hart vorgegangen wäre, wenn der Mann ein "weißer" Tscheche gewesen wäre.

Anders als im Fall von George Floyd, der weltweit bewegte, nahm die deutsche Öffentlichkeit davon kaum Notiz. Worauf führen Sie das zurück?

Der Antiziganismus wird in Deutschland kaum geächtet. Die tradierten Klischees und damit die Stigmatisierung ist immer noch in den Köpfen, auch in intellektuellen Kreisen. Geht es um schwarze oder auch jüdische Menschen, dann sind die Bilder klar. So wird auch hier der Antisemitismus gesellschaftlich verurteilt, während der Antiziganismus nicht die gleiche Solidarität hervorruft.

Fühlen Sie sich in Ihrem Protest alleine gelassen?

Nein. Denn neben der Forderung des Zentralrates nach einer unabhängigen Untersuchungskommission in Tschechien forderte dies auch der Europarat. Ich hatte Gespräche mit dem tschechischen Botschafter und mit Außenminister Heiko Maas werde ich Ende des Monats darüber sprechen.

Das heißt, Deutschland muss sich in Ihren Augen auch innerhalb der EU stärker für die Minderheit engagieren?

Ja. Denn die europäischen Staaten nehmen den Rassismus gegenüber unserer Minderheit, nach Schätzungen der EU zehn bis zwölf Millionen Menschen, immer noch zu wenig ernst. Trotz der Erfahrung des Holocaust.

Sie sind Bürgerrechtler, ebenso wie der US-Prediger Jesse Jackson, den Sie 2019 zum Europäischen Roma-Gedenktag nach Auschwitz eingeladen hatten. Was verbindet Sie beide?

Uns verbindet, dass wir auf der Grundlage der jeweiligen Rechtsstaatlichkeit uns für die Gleichheit aller Menschen einsetzen. Uns eint das Wissen, dass jede Art von Rassismus den gesellschaftlichen Untergang bedeutet. Allerdings: Nur wenn Staat und Gesellschaft sich am Recht orientieren, dann erreichen wir eine friedliche Zukunft für uns alle.

Jackson hat Mitstreiter in der Politik. Wie sieht das bei Ihnen aus?

Wenn ich nicht Teile der Politik und der Gesellschaft bei meinem Bemühen hinter mir wüsste, dann hätte ich längst resigniert.

Sie verstehen sich als Teil dieser Gesellschaft, wollen aktiv mitgestalten. Gibt es da Hindernisse?

Die sehe ich nicht. Der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy sagte in seiner Antrittsrede: "Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt." Und viele Menschen aus der Minderheit gestalten dieses Land ja auch mit, ob in der Kultur, in der Politik oder in der Wirtschaft, ohne dass sie als Sinti oder Roma wahrgenommen werden. Mit ihrem Bekenntnis zur Minderheit befürchten sie aber immer noch Diskriminierung.

Wie aber wollen Sinti und Roma aus dieser Spirale herauskommen?

Wir befinden uns in einem Emanzipationsprozess. Eine junge, gut ausgebildete Generation entwickelt ein neues Selbstbewusstsein, ist stolz auf ihre Abstammung und fordert Selbstverständliches ein, nämlich, dass Deutschland auch ihre Heimat ist.

War das auch der Grund für Sie, trotz ihrer persönlichen Geschichte, dreizehn Angehörige Ihrer Familie kamen in den Konzentrationslagern um, Deutschland nicht den Rücken zu kehren.

Mein Vater dachte in den 50er-Jahren an Auswanderung. Hat sich aber dagegen entschieden. Deutschland war seine Heimat, genau wie für mich. Die Sprache, die Kultur – die binden. Und da sind wir wieder beim Mitgestalten in der Gesellschaft. Hierin sehe ich auch für uns als Minderheit eine Verpflichtung, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Der demokratische Rechtsstaat ist auf unserer Seite. Deshalb ist es ein gutes Gefühl, heute in Deutschland zu leben.

Gerade ist ja ein Verein in Gründung, der sich Bundesverband der Sinti und Roma nennt. Was halten Sie davon?

Auch die Minderheit ist, wie die Mehrheit, pluralistisch. Jeder darf einen Verein gründen. Es ist übrigens der dritte Bundesverband und ich bin mir sicher, dass es noch weitere geben wird. Neu ist allerdings, dass der Verband von einem Generalsekretär geführt wird, der für die Grünen zurzeit im Europaparlament sitzt.

Die Neugründung hängt offenbar eng mit der Auseinandersetzung um das Denkmal der Sinti und Roma zusammen, für das Sie 20 Jahre lang kämpften und das 2012 die Bundesregierung der Öffentlichkeit übergab. An dem Plan der Bahn und des Berliner Senats, eine unterirdische S-Bahn-Trasse unter dem Denkmal zu führen, scheiden sich jetzt die Geister.

Darüber wird seit über einem Jahr heftig diskutiert und ebenso viel wurde geschrieben. Falschinformationen stehen immer noch im Raum. Tatsache ist, dass der Neubau unterirdisch verläuft, dass ein neuer Zugangsschacht gebaut werden muss und dass einige Bäume und Büsche am Rande des Geländes fallen würden. Die Bauarbeiten für den minimalen Eingriff würden ein paar Monate dauern. Das Gedenken in keiner Weise eingeschränkt. Der Zentralrat signalisierte Gesprächsbereitschaft, nachdem die Bahn nach eingehender Prüfung keine andere Möglichkeit sieht, dieses "Jahrhundertprojekt" zu verwirklichen. Wir wollen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn die für die Berlinerinnen und Berliner eine so wichtige Strecke am Veto des Zentralrates scheitert. Auch das hat mit gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu tun.

In Heidelberg wiederum gibt es heftigen Widerstand gegen den Neubau des Dokumentations- und Kulturzentrums der Sinti und Roma in der Altstadt, das 1997 eröffnet wurde. Was haben Sie da den Kritikern anzubieten?

Angeboten haben wir allen Heidelbergern frühzeitige Informationen. Bereits vor der Erstellung der ersten Entwürfe organisierten wir Anfang Januar 2020 ein Bürgergespräch. Vom 25. Juli bis zum 9. August 2020 gab es eine öffentliche Ausstellung der Entwürfe der ersten Phase mit zwei Führungen und Feedbackbögen. Das wiederholten wir vom 20. Juli bis 1. August 2021 für die Entwürfe der zweiten Phase. Dazu war selbstverständlich auch der Verein "Alt Heidelberg" eingeladen, der sich ja besonders intensiv um die Belange in der Altstadt kümmert. Während es von den Nachbarn durchweg Zustimmung gab, vermissten wir den Altstadt-Verein. Wir haben ihm jetzt erneut ein Gespräch angeboten. Und ich denke, dass wir gemeinsam einen guten Weg finden werden, zumal es sich lediglich um eine erste Grobplanung handelt. Denn auch mir als Heidelberger liegt das Wohl dieser Stadt am Herzen – auch das gestalterische. Die meisten hier sind stolz auf das Kultur- und Dokumentationszentrum, das ja einmalig in Europa ist. Der geplante Bau, soll nicht nur mehr Platz für unsere neu konzipierte Dauerausstellung schaffen, sondern auch ein Ort der Begegnung sein. Ein Kulturzentrum mitten in der Altstadt. Unter anderem mit Tagungsräumen, einem Saal für kulturelle Veranstaltungen, einem Café.

Sie wurden für Ihre Bürgerrechtsarbeit ja mit zahlreichen Orden und Preisen ausgezeichnet. Den ungarischen Orden haben Sie gerade an Staatspräsidenten Orbán wegen dessen diskriminierender Gesetzgebung gegenüber Homosexuellen zurückgeschickt. Gibt es für Sie eine Auszeichnung, über die Sie sich besonders gefreut haben?

Gefreut habe ich mich über alle. Da gibt es keine Rangfolge. Eine besondere Auszeichnung ist für mich das "Light of Remembrance", mit der mich jetzt am 2. August der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, geehrt hat. Diese Würdigung für den "vergessenen Teil des Holocaust das Licht in die Weltöffentlichkeit getragen zu haben" hat mich mit Stolz erfüllt. Denn Holocaust heißt auch die Ermordung von 500.000 Sinti und Roma.

Herr Rose, Vieles haben Sie erreicht. Gibt es noch Wünsche für die Zukunft?

Dass ich ein einiges Europa noch erleben darf, dass Unterschiede durch Abstammung, Hautfarbe oder Religion keine Rolle mehr spielen, dass ohne Ansehen der Person die gleichen Rechte gelten. Denn in der Durchsetzung der Menschenrechte sehe ich mich nicht nur in der Verantwortung gegenüber der Minderheit. Für Gerechtigkeit einzutreten ist eine Aufgabe für uns alle. Und ich bin es mir auch aus der Erfahrung meiner Familie schuldig.

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