Interview

"Im Osten gibt es eine Grundenttäuschung"

Dem Politologen Hans Vorländer zufolge sehen sich viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse. Auch darum sind die Protestbewegungen in den neuen Bundesländern heftiger als im Westen.

28.09.2022 UPDATE: 28.09.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 5 Sekunden
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Hans Vorländer (68)
Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung. Foto: dpa

Von Gernot Heller, RNZ Berlin

Berlin. Hans Vorländer ist Politologe an der TU Dresden sowie Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung.

Herr Vorländer, an diesem Mittwoch legt die Bundesregierung ihren Bericht zu Ostdeutschland vor. Ist die Kluft zwischen Ost und West größer geworden?

Nach den vorliegenden Daten ist diese Kluft nicht generell größer geworden. Die Vertrauenswerte nehmen ab, was die Haltung zur Regierung und Institutionen angeht, im Osten wie im Westen gleichermaßen. Der Unterschied ist allerdings, dass der Osten von einem niedrigeren Vertrauensplateau startete, und das macht den Unterschied aus.

Wie kommt es, dass ostdeutsche Länder aktuell wieder mal das Zentrum des Protests gegen die Politik der Bundesregierung bilden?

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Wir haben seit einigen Jahren eine heftige Protestbewegung in Ostdeutschland. Das begann mit der Migrationskrise 2015, setzte sich fort über die Corona-Folgen und es gab viele lokale Proteste. Das Gleiche sehen wir jetzt beim Thema Inflation und Russland-Sanktionen. Dahinter verbergen sich eine Reihe von Einzelentwicklungen: Die Unzufriedenheit bei vielen Menschen mit den aktuellen Zuständen, Unsicherheit über die weitere Entwicklung. Dabei ist die Verunsicherung wegen der verschiedenen, sich aufschichtenden Krisen besonders groß, weil man im Zuge der Transformation nach 1990 schmerzvoll viele Phasen der sozialen und ökonomischen Veränderungen erlebt hat. Hinzu kommt, dass es in Ostdeutschland so etwas wie ein politisches Unternehmertum speziell im rechtsextremen Lager gibt – AfD und andere – das auf lokaler Ebene sehr rege bei der Mobilisierung von Protesten ist und die allgemeine Unzufriedenheit befördert.

Verwendet die Bundesregierung zu wenig Aufmerksamkeit auf die besondere Lage in den ostdeutschen Bundesländern?

Es gibt eine Grundenttäuschung, eine Kränkung bei vielen Menschen in Osten, bei denen der subjektive Eindruck entstand, dass weder der frühere Bundespräsident Gauck noch die Ex-Kanzlerin Merkel, beides Ostdeutsche, sich besonders für die Belange der neuen Länder eingesetzt haben. Das haben manche als Verrat an ostdeutscher Identität empfunden. Das verstärkte ein vorherrschendes Gefühl, dass man sich von den Politikern Westdeutschlands und den dortigen Medien nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt. Im Besonderen gilt das für Menschen im Süden Ostdeutschland, also in Sachsen, in südlichen Teilen von Sachsen-Anhalt und Thüringen, die sich oft als Bürger zweiter Klasse empfinden.

Hat Corona, hat der Streit um Russland-Sanktionen die Kluft vertieft?

Die Corona-Krise hat sicher nicht generell die Kluft zwischen Ost und West vergrößert. Aber die Menschen im Osten sind länger als andernorts auf die Straße gegangen. Hier gibt es ein Kontinuum des Protestes. Nicht wenige haben die Corona-Maßnahmen als Bevormundung empfunden, und da sind sie nach den Erfahrungen aus Zeiten der DDR sehr empfindlich. Was Russland und die Ukraine angeht, da würde ich von einer grundsätzlichen Differenz zwischen Ost und West sprechen, was sich in einer größeren Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine und einer heftigeren Kritik an den Russland-Sanktionen äußert. Das hat mit der besonderen, wenn auch ambivalenten Beziehung zu Russland und den Russen zu tun, die man als Besatzungsmacht empfunden hat, der man sich aber auch – durch Literatur, Musik, kulturellen Austausch – verbunden fühlt.

Sehen Sie eine dauerhafte Spaltung zwischen den alten und neuen Ländern?

Das würde ich so nicht sagen. Das Zusammenwachsen braucht auch über 30 Jahre nach der Vereinigung noch Zeit, ist eine Sache von Generationen. Aber man sollte auch wegkommen vom Denken nach den Kategorien Ost und West. Es gibt schließlich auch große Unterschiede zwischen Schleswig-Holsteiner und Bayern.