Holocaust-Gedenken: Die Zeugen Jehovas wurden lange übersehen

Die Zeugen Jehovas stellen unter den Opfern des Nationalsozialismus eine besondere Gruppe dar

26.01.2017 UPDATE: 27.01.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 19 Sekunden

Der Stolperstein für Ludwig Brummer, einer von dreien für Zeugen Jehovas in Heidelberg.

Von Daniel Bräuer

Heidelberg. Er hatte vergeblich gehofft. Ludwig Brummer hatte sich nicht der Einberufung widersetzt. Er war mit ins Feld gezogen, im Glauben, er könne im Lazarett dienen, ohne eine Waffe anrühren zu müssen. Erst weit im Osten, auf dem Russlandfeldzug der Wehrmacht, verweigerte der junge Mann aus Heidelberg den Kriegsdienst - wie es viele seiner Glaubensgenossen taten. Mit tödlichen Folgen.

Im Dezember 1941 wurde Brummer in Babruisk (Weißrussland) von einem Kriegsgericht verurteilt und hingerichtet. Vor seinem Geburtshaus in der Dreikönigstraße erinnert heute ein "Stolperstein" an ihn, einen Zeugen Jehovas.

Bis in die Neunzigerjahre galt diese umstrittene und oft als Sekte bezeichnete Glaubensgemeinschaft als "vergessene" Gruppe unter den Opfern des Nationalsozialismus. Das stimmt so nicht mehr. Wissenschaftlich ist die Aufarbeitung so gut wie abgeschlossen, sagt der Historiker Hans Hesse, der selbst einige Bücher dazu veröffentlicht hat. "Etwas anderes ist die öffentliche Wahrnehmung", sagt er.

Zum Beispiel sei nur wenigen bekannt, dass Zeuginnen Jehovas bis 1939 die größte Gruppe in Frauen-KZs ausmachten. Oder dass die Idee, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ins Grundgesetz zu schreiben, auch auf die Erinnerung an das Verhalten der Zeugen Jehovas im Dritten Reich zurückging.

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Die "Bibelforscher", wie sie damals auch hießen, glauben, dass Christus 1914 seine irdische Herrschaft angetreten hat. Für sie folgt daraus eine strikt apolitische Haltung: Parteien und Wahlen lehnen sie ab, auch den Wehrdienst oder jegliche weltliche Loyalitätsbekundungen. In der totalitären Diktatur führe das fast zwangsläufig in die Opposition, sagt Hesse.

Zeugen Jehovas verweigerten Hitlergruß, Fahneneid oder den Eintritt in die Einheitsgewerkschaft DAF. Den Nazis waren sie damit von Beginn an ein Dorn im Auge. Durch Wahlenthaltung hätten sie sich "außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft gestellt", heißt es 1934 im damaligen Duktus. Schon 1933 wurden die Bibelforscher in manchen Ländern verboten, auch in Baden, und ihre Mitglieder aus dem Staatsdienst entlassen. Bibelkreise und Mission - untersagt. "Es hat für mich keinen Sinn, zu Hause alleine sitzen zu bleiben und in der Bibel zu lesen", sagt eine Mannheimerin 1936 im Gestapo-Verhör. "Das, was für uns unumgänglich ist, hat man uns verboten."

Doch viele Zeugen leisten auf ihre Art Widerstand. Im Untergrund verbreiten sie weiter ihre Schriften. Mehrfach koordinieren sie öffentlichen Protest. "Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen", heißt es in einem Brief, der im Oktober 1934 tausendfach aus dem In- und Ausland in Berlin eingeht. "Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten."

Von rund 25.000 Zeugen Jehovas im Reich kommt gut die Hälfte zeitweise in Haft - ein hoher Verfolgungsgrad. 2000 landen im KZ, wo sie als einzige religiöse Gruppe mit einem eigenen Zeichen, dem "lila Winkel", stigmatisiert werden.

Etwa 1200 Zeugen Jehovas kommen in der NS-Zeit ums Leben, fast 300 werden als "Wehrkraftzersetzer" hingerichtet, auch 54 Männer aus dem Südwesten. Denn seit Kriegsbeginn 1939 steht auf Verweigerung die Todesstrafe. In den ersten Kriegsmonaten trifft dies fast nur Zeugen Jehovas. Und nur wenige versuchen, dem Dienst an der Waffe so wie Ludwig Brummer zu entgehen. "Gut gegangen ist das nie", sagt Kurt Triller, ein Zeuge Jehovas, der heute in Eppelheim lebt, sich intensiv mit der Geschichte befasst und Stolpersteinverlegungen in ganz Deutschland begleitet.

"In Anbetracht der Hartnäckigkeit und der Gefährlichkeit seiner Handlungsweise erscheint die härteste Strafe geboten", heißt es in einem dürren, dreiseitigen Urteil von 1942, als die Prozesse noch einmal beschleunigt worden sind. Selbst Minderjährige werden hingerichtet, manche sogar nach langer Gestapo-"Schutzhaft", ohne je einen Richter gesehen zu haben.

Die Konsequenz, mit der mancher Verurteilte sein Schicksal akzeptierte, nötigt selbst den Unterdrückern Respekt ab, von "bewundernswerter Fassung" schrieb später der ehemalige Präsident des Reichskriegsgerichts.

Historiker Hesse erklärt das so: "Sie haben ihren Glauben sehr ernsthaft gelebt."