Warum Behinderung nicht "krank" heißt
Die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung im RNZ-Interview. In Krisenzeiten stehen Belange dieser Menschen nicht ganz oben.



(43), Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung
Von Sören Sgries
Heidelberg/Stuttgart. Interview mit Simone Fischer (43), Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung.
Frau Fischer, diesen Montag wollen die Gesundheitsminister noch einmal über die Maskenpflicht in Werkstätten und Pflegeheimen für Menschen mit Behinderung beraten. Steht diese Debatte für Sie auch symbolhaft dafür, wie wichtig laute Fürsprecher – also Behindertenbeauftragte – sind?
Es zeigt sich jedenfalls, dass in herausfordernden Zeiten die Belange von Menschen mit Behinderung nicht immer ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Es ist aber wichtig, diese einzubringen. Man kann Menschen nicht automatisch als "vulnerabel" einstufen – egal wo sie leben, wohnen oder arbeiten.
Zeigt sich da auch gesellschaftliches Grundproblem? Menschen mit Behinderung werden als vorschnell als "krank" eingestuft, weil es im Alltag zu wenig Berührungspunkte gibt?
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An vielen Stellen ist der Blick auf Behinderung sicherlich noch stark mit einem Stigma oder einem Defizit verbunden. Behinderung heißt nicht krank. Es ist zu wenig bewusst, dass es selbstverständlich ist, dass wir Menschen verschieden sind. Auch jene mit Behinderung wollen selbstbestimmt leben. Das muss nicht immer selbständig bedeuten. Ein Leben mit Assistenz kann selbstbestimmt sein.
Wie bewerten Sie denn jetzt diese Vorgabe im Bundesinfektionsschutzgesetz, die keinerlei Maskenpflicht für Büros, Fabriken oder Schulen vorsieht, aber wie selbstverständlich so in die Arbeitsplätze oder Wohnheime von Menschen mit Behinderung eingreift?
Die Regelung ist ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre. Sie ist auch nicht mit dem Recht auf Selbstbestimmung und soziale Teilhabe vereinbar. Es scheint, dass die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, die in besonderen Wohnformen leben oder in Werkstätten arbeiten, vielen nicht bekannt ist. Und es fehlt offenbar das Bewusstsein, dass viele von ihnen einen WG- und Arbeits-Alltag haben. Wenn zu uns jemand sagen würde, wir müssen in unserem Wohnzimmer eine Maske tragen, würden wir aufstehen und uns wehren. Für viele dieser Menschen ist das nicht so einfach möglich. Und sie haben oftmals großes Vertrauen. Das dürfen wir übrigens auch nicht enttäuschen. Besonders schmerzhaft ist, dass es Menschen trifft, die schon in der ganzen Pandemie verhältnismäßig weniger Möglichkeiten der Teilhabe hatten. Freilich ist es eine Aufgabe, gleichzeitig so viel Autonomie wie möglich und so viel Schutz wie nötig herzustellen. In Baden-Württemberg wurden seit kurz nach Beginn der Pandemie dafür recht gute Lösungen gefunden.
Hätten die Beauftragten für Menschen mit Behinderung im Vorfeld mehr gehört werden müssen?
Die Beteiligung der Landesbeauftragten ist ja formal für ein Bundesgesetz nicht vorgesehen, deshalb gab es leider offiziell keine direkte Einflussmöglichkeit. Die Pandemie erforderte oft ganz schnelle Entscheidungen.
Hätten Sie von sich aus mehr "Alarm schlagen" müssen?
Baden-Württemberg mit Minister Lucha hat sich von Beginn an gegen diese Regelung ausgesprochen. Leider wurden wir mit unserer Kritik nicht gehört. An diesem Beispiel sieht man ganz gut: Die Maskenpflicht im Flugzeug wurde aufgehoben – obwohl dort viele, einander fremde Menschen aufeinandertreffen, bei einer Firma am Band spielt sie keine Rolle. Für behinderte Menschen, die in Wohngemeinschaften ständig miteinander leben oder in Werkstätten arbeiten, fehlt scheinbar an vielen Stellen ein Bewusstsein, eine gleichermaßen starke Lobby. Es braucht die Sichtbarkeit und Stimmen von behinderten Menschen. Vor allem auch ein Interesse für deren Lebenswelt. Dafür setze ich mich ein. Auch, um nachhaltige Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen zu erreichen.
Würden Sie jenseits der aktuellen Debatte sagen: Corona war auch insgesamt für Ihr erstes Jahr im Amt das bestimmende Thema?
Es war ein dominierendes Thema. Menschen mit Behinderung sind von den Folgen der Pandemie vielfach immer noch stärker konfrontiert, als der Rest der Bevölkerung. Aber auch der Alltag jenseits der Pandemie hält viele Aufgaben bereit.
Zum Beispiel?
Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen hat Auswirkungen. Sichergeglaubtes wird in Frage gestellt. Wir waren ja schon vorher nicht am Ziel bei der Barrierefreiheit und Inklusion. Vom Fachkräftemangel bei der Kleinkindbetreuung und in Kitas sind natürlich auch Familien betroffen, in denen Kinder mit Behinderung leben. Sie berichten mir, dass Betreuungszeiten stärker gekürzt oder Regeln getroffen werden, die gerade ihre Kinder ausschließen. Für viele von ihnen müssen die Eltern darum kämpfen, dass sie überhaupt Betreuung finden. Das Vorgehen mancher Kita-Träger sorgt mich. Auch an Schulen müssen Eltern immer wieder auf den Rechtsanspruch auf Inklusion hinweisen und stehen vor Schwierigkeiten. Dabei ist ein Kind mit Behinderung Kita- oder Schul-Kind wie jedes Kind. Personal- oder Organisationsmangel dürfen nicht dazu führen, dass Teilhabe ausgebremst wird.
Diskutiert wird ja, ob an Kitas nicht der Betreuungsschlüssel hochgesetzt werden kann, um mehr Plätze zu schaffen. Kinder mit Behinderung wären da die Hauptleidtragenden, weil sie intensive Betreuung brauchen, oder?
Deshalb arbeiten wir dafür, dass es gar nicht erst dazu kommt, dass sie darunter leiden müssen. Ich bin dazu mit dem Kultusministerium und den Kommunalen Landesverbänden im Gespräch. Damit Inklusion gelingen kann, brauchen wir eigentlich kleine Gruppengrößen, gut ausgebildetes Personal und engagierte Menschen. Es ist nicht zwangsläufig so, dass jedes Kind mit Behinderung oder sozial-emotionalem Verhalten zwangsläufig die intensivste Betreuung braucht. § 8 Abs. 5 und 6 Kita-Gesetz und die Änderungen im Finanzausgleichgesetz bieten eine gute Grundlage für die Träger. Und wir brauchen eine Gesellschaft, die sich für andere einsetzt und damit allen Kindern und ihren Familien den Zugang zu Kitas, Schulen und im Alltag ermöglicht.
Auch bei den Preisanstiegen beim Bauen gab es den Vorstoß, doch einfach Abstriche bei der Barrierefreiheit zu machen. Was haben Sie gedacht, als Sie das hörten?
Das ist vom Tisch. Barrierefreiheit muss selbstverständlich sein.
Bauherren, auch Städte im öffentlichen Raum, sehen Sie grundsätzlich auf dem richtigen Weg?
Die gesetzlichen Anforderungen sind klar. Architekten und Bauherren wissen eigentlich, dass und wie sie barrierefrei planen und bauen müssen. Bei der Umsetzung ist noch Luft nach oben. Es macht keinen Sinn, Barrieren zu bauen. Das ist ein Qualitätsmerkmal, ein Professionalitätsmerkmal. Zumal stellt nachhaltiges Bauen auch Barrierefreiheit sicher. Noch dazu ist es zeitgemäß. Allein die demografische Entwicklung mit einer älter werdenden Gesellschaft macht es erforderlich, dass ihre Wohnungen, aber auch Plätze und öffentliche Einrichtungen barrierefrei zugänglich sind. Je mehr Menschen in ihrem Quartier bleiben können, desto besser. Im Bestand könnten wir mehr erreichen.
Die Gastronomie oder auch Kultureinrichtungen sind ja finanziell derzeit stark unter Druck. Bekommen Sie da die Rückmeldung, dass beispielsweise der Einbau einer Rampe statt einer Stufe zu teuer ist?
Glücklicherweise habe ich im letzten Jahr von solchen Fällen nicht gehört. Aber ich kann schon verstehen, dass es finanziell schwierig sein kann. Deswegen ist es wichtig, dass es passende Förderprogramme gibt und auch die Kommunen vor Ort einen Blick darauf haben, dass alle ihre Bürgerinnen und Bürger teilhaben können.
Jetzt war viel die Rede von Problemen. Welche Erfolgserlebnisse hatten Sie denn im vergangenen Jahr?
Ich habe daran gearbeitet, den Anliegen auf der Landesebene mehr Bedeutung und ein Gesicht zu geben, auch Öffentlichkeit zu schaffen. Bei vielen Besuchen vor Ort habe ich zahlreiche offene, sehr herzliche Menschen mit und ohne Behinderung getroffen. Es gibt so Viele, die sich füreinander und eine barrierefreie Gesellschaft einsetzen. Es gibt Unternehmen, die sich wirklich darum kümmern, dass Menschen mit Behinderung auch bei ihnen, im allgemeinen Arbeitsmarkt, gute Arbeitsplätze finden. Und in den Ministerien erlebe ich eine große Offenheit für unsere Belange, quer durch alle Ressorts. Seit Sommer arbeiten wir an der Fortschreibung des Landes-Aktionsplans. Für mich ist zentral, dass eine konsequente Beteiligung von Menschen mit Behinderungen sichergestellt ist und alle Ministerien daran mitwirken. Das läuft.
Haben Sie ein zentrales Großthema für das kommende Jahr?
Noch viel zu oft werden behinderte Menschen nicht mitgedacht. Ich werde daran mitwirken, dass aus dem Landes-Aktionsplan konkrete und lebensnahe Maßnahmen folgen, so dass die Menschen in ihrem Alltag noch in dieser Legislatur wirksame Verbesserungen spüren. Um bei der Teilhabe und Barrierefreiheit weiter voranzukommen, können bestimmte Kriterien dies beispielsweise in den Landesprogrammen besser berücksichtigen. Die Verbesserungen, die das Bundesteilhabegesetz mit sich bringt, müssen endlich bei den Menschen ankommen. Sie wollen einen zeitgemäßen Alltag erleben. Der grün-schwarze Koalitionsvertrag sieht To Do’s vor, bei denen ich mich gern einbringe. Das Thema Arbeit sowie die Situation behinderter Frauen liegen mir am Herzen. Ich werde mit weiteren Formaten arbeiten – schon jetzt, im November, gibt es eine Veranstaltung zur Gesundheitsversorgung ohne Barrieren.