Nach kreativen Ausflügen kehrt Rufus Wainwright mit seinem Album "Unfollow The Rules" zum Kerngeschäft zurück und brilliert mit barocken, in Harmonien schwelgenden und inhaltlich nicht selten augenzwinkernden neuen Songs. Steffen Rüth traf den 46-Jährigen, der mit seinem Ehemann, dem Kunsthändler Jörn Weisbrodt, sowie der neun-jährigen Tochter Viva im hippen Laurel Canyon im Norden Hollywoods lebt, in Berlin.
Rufus, Du hast sieben Jahre lang kein Pop-Album mehr gemacht. Weshalb jetzt wieder?
Rufus Wainwright: Ich fing an, die Popwelt zu vermissen. Ich führe ein sehr vielfältiges, schillerndes Künstlerleben, habe in den vergangenen Jahren unter anderem Sonette von Shakespeare vertont und die Oper "Hadrian" geschrieben. Doch jetzt hatte ich Lust, dorthin zurückzukehren, wo alles für mich angefangen hat. Und selbst wenn ich nie die weltgrößte Sensation war, hatte ich im Pop alles in allem den meisten Erfolg.
Wie hat sich die Popwelt während Deiner Abwesenheit verändert?
Bin ich zu optimistisch, wenn ich denke, dass sie mir ein Stück entgegengekommen ist? Taylor Swift, Justin Bieber, Drake – das war für mich ein anderer, zu greller und zu süßer Planet. Aber der Pop scheint neuerdings die Außenseiter zu feiern. Lizzo etwa oder Billie Eilish haben einen Grammy nach dem anderen gewonnen. Ich finde die Entwicklung aufregend, der Pop hat sich wirklich geöffnet.
Im Song "This One’s For The Ladies" erzählst Du, wie eine Horde wildgewordener Fans Dir nachstellt. Ist das Realität oder Wunschtraum?
Nein, das ist wirklich geschehen. Mit sehr loyalen und intensiven Fans, die vielleicht ein bisschen zu leidenschaftlich sind, habe ich so meine Erfahrungen gemacht. Das sind immer Frauen, die meisten schon etwas älter, so um die 60, die in meinen Konzerten komplett die Sau rauslassen und mir wochenlang hinterher reisen. Das ist einerseits berührend und schön, andererseits werde ich manchmal ein wenig nervös.
Hast Du Angst vor den Ladies?
Nein, aber sie sind schon echt wild. Das muss mit den Hormonen zusammenhängen. Frauen über 50 genießen ihre Freiheiten wirklich sehr gründlich.
Können Männer ähnlich ekstatisch sein?
Wir haben unsere krasse Phase in unseren Zwanzigern und Dreißigern. Danach werden wir ruhiger. Ich bin 46, ich weiß, wovon ich rede. Die hormonelle Balance zwischen Östrogen und Testosteron ist gerade genau richtig bei mir. Ich bin richtig angekommen, sowohl in meinem künstlerischen Leben, als auch in meiner Familie. Ich bin seit acht Jahren verheiratet, sogar schon seit fünfzehn Jahren mit Jörn zusammen, wir sind Eltern einer Neunjährigen, deren Sorgerecht wir uns mit ihrer Mutter, Lorca Cohen, teilen. Das Leben ist gerade wirklich süß. Jetzt muss nur noch Corona überstanden werden und im Herbst ein neuer US-Präsident kommen.
Du Optimist.
Der bin ich wirklich. Ich denke, wir bekommen das alles in den Griff.
Wird Joe Biden gegen Donald Trump gewinnen?
Wahrscheinlich schon. Ich habe ihn mal getroffen, der Mann ist in Ordnung. Wir brauchen in der jetzigen Phase so einen etwas trockenen Durchschnittspräsidenten, der das Land wieder zur Ruhe bringt. Insgesamt stimme ich politisch zwar noch stärker mit Bernie Sanders überein, aber Geld ist einfach zu wichtig in der Welt, um erfolgreich Politik gegen die Milliardäre machen zu können. Ich weiß auch nicht, ob man es gerade den ärmeren Amerikanern, von denen viele schwarz sind, vermitteln kann, wenn einer daherkommt und ruft "Hey, lasst uns das System zerstören". Wenn du kaum Geld hast, ist dir die Revolution nicht ganz so wichtig.
Wo hast Du Joe Biden denn kennengelernt?
Im Weißen Haus bei so einer LGBTQ-Veranstaltung. Muss schon gut zehn Jahre her sein. Barack Obama hielt eine seiner großartigen und inspirierenden Reden, während Biden plötzlich mitten unter uns stand und alle fröhlich begrüßte. Als schwuler Mann, der an einen kalten, abweisenden Vater gewöhnt war, fand ich diese herzliche Vaterfigur sehr rührend.
Ist es wahr, dass die Devise "Unfollow The Rules", also "Befolge die Regeln nicht", von Deiner Tochter stammt?
Ja. Sie meint, ich würde sie dazu ermuntern, die Regeln außen vor zu lassen, und sie hat Recht. In dem Stück selbst spreche ich jedoch in erster Linie über den Segen der Psychotherapie. Mir hat es immer sehr geholfen, stundenlang mit jemandem über meine Kindheit oder über was auch immer zu reden. Aber durch den eigentlichen Schmerz musst du dich allein kämpfen. Meine schlimmste und tragischste Lebenserfahrung war der Tod meiner Mutter (Red.: die Folksängerin Kate McGarrigle starb 2010 an Krebs). Du kannst reden, reden, reden, doch am Ende musst du dich damit abfinden und mit dem Verlust leben.
Die neuen Songs wie "Only The People We Love" haben einen sehr hoffnungsvollen Grundton. Blickst Du guter Dinge in die Zukunft?
Ja, das tue ich. Trotz allem. Auf einer persönlichen Ebene bin ich überrascht und positiv geschockt, dass ich schon seit 15 Jahren mit meinem Mann glücklich bin. Allgemeiner gefasst denke ich zurück an die Zeit, als ich in die Pubertät kam und überzeugt war, dass ich einmal an Aids sterben müsste. Ich hätte nie geglaubt damals, dass ich einmal ein Kind haben würde oder verheiratet bin. Die Homosexuellen-Ehe war illegal damals, überhaupt das Schwulsein als solches war weit weniger akzeptiert und selbstverständlich als heute. Jetzt habe ich eine Tochter, einen Mann, bin gesund. Wenn ich auf 5000 Jahre Zivilisation zurückblicke, dann leben wir doch jetzt in der besten Zeit, die wir Menschen je gesehen haben.
Info: Das Album "Unfollow The Rules" erscheint am 10. Juli. Es gibt aktuell keine Termine für Livekonzerte in Deutschland.