"Such Pretty Forks In The Road" heißt das neunte Studioalbum der in Ottawa geborenen US-Kanadierin, die vor einem Vierteljahrhundert mit der legendären "Jagged Little Pill"-Platte unsterblich wurde. Auch das neue Album, dessen Veröffentlichung vom Mai auf Ende Juli verschoben wurde, ist wieder gespickt mit klugen Sätzen sowie griffigen Popmelodien. Steffen Rüth sprach mit der 46-Jährigen über ihre Familie, Depressionen und notwendige Veränderungen im Leben.
Alanis, Deine Single heißt "Reasons I Drink". Hattest Du heute schon Grund zu trinken?
Alanis Morissette: Japp. Bis jetzt habe ich widerstanden, aber gut möglich, dass ich nachher mit meinem Mann eine Flasche Wein öffne. Es ist vor allem die Schlaflosigkeit, die mich in die Arme des Alkohols treibt. Ich habe das Gefühl, dass ich sechs Tage lang nicht gepennt habe. Der Jetlag, die drei Kinder – mein Stresslevel ist kontinuierlich sehr hoch.
Ist die ganze Familie mit dabei auf Deiner Europareise?
Ja. Mein Mann und alle drei Kinder. Unsere Sohn Ever ist neun, Tochter Onyx vier und Winter, unser Kleinster, kam im vergangenen August zur Welt. Ich will die alle nicht alleine lassen, ich hänge so an denen. Aber es ist natürlich sehr herausfordernd. Bei den ersten beiden Kindern hatte ich richtige Wochenbett-Depressionen, bei Winter litt ich nach der Geburt unter, ich nenne es, Aktivitäten. Es war nicht so heftig wie bei den älteren, aber es war doch auch nicht nichts. Ängste vor allem und Panikattacken.
Was tust Du dagegen?
Nun ja, Medikamente helfen, sehr sogar. Ansonsten ist die Liste der alternativen Selbstmedikation lang: Essen, Alkohol, das Stürzen in Arbeit, Liebe.
Liebe?
Die Liebe ist eine der gefährlichsten Süchte überhaupt. Sie kann dich zugrunde richten. Angenommen, du lebst in einer Beziehung, die nicht funktioniert, hängst aber schrecklich an deinem Partner oder deiner Partnerin, ganz ehrlich, das ist grausam.
Du bist jetzt seit zehn Jahren mit dem Rapper und Musiker Mario "Soul-eye" Treadway verheiratet. Wie schlimm ist die Liebessucht denn?
(lacht): Ich habe glücklicherweise einen Mann geheiratet, mit dem es immer noch sehr gut funktioniert. Wir haben unsere Kämpfe, aber es läuft mit ihm eindeutig besser als mit allen anderen Kerlen zuvor. Wenn wir streiten, was wir oft genug tun, sehen wir das eher als Ansporn, noch mehr miteinander zu reden.
Du sprichst sehr offen über Deine Depressionen nach den Geburten der Kinder. Wie hat sich die Krankheit geäußert?
Bei Ever und Onyx, den älteren, durch schrecklich dunkle Gedanken und Bilder im Kopf von furchtbaren Verletzungen und dem Tod. Sehr, sehr ungesunde Gedanken. Gedanken, die einen zermürben und zersetzen. Und, ja, die Tabletten helfen tatsächlich. Auch Cannabis tut gut. Mittlerweile habe ich genug Erfahrungen mit der Krankheit gesammelt, dass ich merke, wenn es wieder losgeht.
In "Losing The Plot" sagst Du, dass das Licht am Ende des Tunnels der Zug sei, der mit 160 Stundenkilometern auf Dich zurase.
Und trotzdem steckt in dem Lied viel Zuversicht. Ich habe gelernt, dass meine Depressionen nach den Geburten zwei bis drei Jahre anhalten. Das ist kein Leiden für den Rest des Lebens. Am Großartigsten ist es, langsam wieder raus zu krabbeln aus der dunklen Höhle, jedes Mal etwas weiser und widerstandsfähiger.
Wie ging es Dir denn beim Schreiben der neuen Lieder?
Als ich "Diagnosis" schrieb, war ich mitten in einer destruktiven Spirale. Bei "Losing The Plot" auch. In dieser Phase fassten wir den Entschluss umzuziehen, unser Leben neu aufzustellen. Eine Veränderung tat not. Ich habe 25 Jahre in Hollywood gelebt, davon 22 Jahre im selben Haus. Doch jetzt sind wir vor gut einem Jahr in die Bay Area umgezogen, in die Nähe von San Francisco. Für mein Wertesystem und auch für das meiner Kids ist es gesünder dort.
Wie meinst Du das?
Ich halte dieses "Hey, du musst dein Leben lang wie 19 aussehen"-Denken aus, aber für meine Kinder ist das auf Dauer schädlich. Als Frau über 26 bist du in Hollywood praktisch abgemeldet. Los Angeles ist mir nach wie vor zu männerdominiert und auch zu materialistisch. Früher war es okay, nur Millionärin zu sein. Heute brauchst du schon eine Milliarde, um zu genügen. Ich wollte mit der Familie irgendwo hin, wo andere Werte wichtiger sind: Beziehungen, Zusammenhalt, Gemeinschaft und Fairness.
Interessieren sich Deine Kinder für Deinen Beruf?
Mäßig. Onyx und Ever haben beide richtig schöne Stimmen. Ever ist glaube ich ein bisschen stolz auf seine Mum, aber das würde er nie zugeben. Neulich morgens habe ich ihn in der Dusche singen gehört – er sang tatsächlich "Smiling" von meinem neuen Album. Süßer Junge.
"Reasons I Drink" ist der wütendste Song auf dem Album. Wie wichtig ist Wut?
Immens wichtig. Wut ist für mich ein positives Gefühl. So lange wir unsere Wut spüren und ihr Ausdruck verleihen können, sind wir nicht depressiv. Meine Wut hilft mir, als Mamabär die Kinder zu beschützen, und sie hilft mir auch, wenn ich bei Kongressen über Themen wie das Patriarchat und die Stellung von Frauen in der Musikbranche debattiere. Wut stößt Veränderungen an. Ich liebe junge Menschen wie Greta Thunberg. Sie hat sehr viel Grund, wütend zu sein.
Dein berühmtestes Album "Jagged Little Pill" wird in diesem Jahr 25 Jahre alt. Bist Du stolz?
Ja. Ich kann diese Songs immer noch mit derselben Überzeugung singen wie mit Anfang 20. Das Album hat das Leben vieler Menschen ein bisschen beeindruckt, es hat ihnen eine ganze Palette von Gefühlen an die Hand gegeben: Wut, Freude, Trauer, Glück, das volle Programm. "Jagged Little Pill" war ein Erlaubnis-Erteiler für Emotionen aller Art, und deshalb wurde es so ein Zeitgeist-Phänomen.
Info: Das Album "Such Pretty Forks In The Road" gibt es ab 31. Juli. Nach derzeitigem Tourplan am 28. Oktober 2021 live in Hamburg.