Von Gregor Tholl und Alex Wenisch
Berlin. Promi-Spotting in Berlin – wo muss man denn da hin? Samstagnachmittags empfiehlt sich das Stadion von Hertha BSC, da taucht regelmäßig Frauenschwarm Hans Albers auf. Eine Top-Adresse ist auch das Hotel "Adlon". Charlie Chaplin ist hier immer wieder zu Gast, ebenso wie Hollywoodstar Douglas Fairbanks, der "Robin Hood" aus dem gleichnamigen Kinohit. Wenn ein weißer Mercedes-Kompressor vor der Tür steht, kann man davon ausgehen, dass Fritz Lang gerade da ist, der Regisseur von "Metropolis". Und Albert Einstein? Um ihn zu sehen, muss man raus nach Caputh an den Havelseen: Da schippert er am Wochenende mit seiner Jacht herum.

Es gibt schon einige verblüffende Parallelen zwischen den "Goldenen 20er Jahren" und der heutigen Zeit. Starkult kannte die Weimarer Republik jedenfalls auch. Die "Goldenen 20er" haben für Deutsche bis heute einen magischen Klang – sie rufen sofort das Bild von "Babylon Berlin" wach: Varieté-Shows und verruchte Nachtclubs, Weltstadtflair und Avantgardekunst, Marlene Dietrich, Josephine Baker und Thomas Manns "Zauberberg". Damals blühten Wirtschaft, Gastronomie, Mode, Theater, Filmindustrie, Nachtleben. Die deutsche Hauptstadt schien der Mittelpunkt der Welt zu sein. Doch wie "golden" war dieses Jahrzehnt wirklich? Und wiederholt sich die Geschichte? Stehen uns – nach der Corona-Krise – ähnliche Jahre der kulturellen Blüte bevor?
Anfangs waren die 1920er schwarz, nicht golden. Jahrelang herrschte Armut und politische Instabilität, Europa und Deutschland waren mit den Folgen des Ersten Weltkriegs beschäftigt. Es gab Umsturzversuche ("Kapp-Putsch") und rechtsextremistische Mordanschläge auf demokratische Politiker (Matthias Erzberger 1921, Walther Rathenau 1922). Zur selben Zeit vernichtete eine Hyperinflation das Geldvermögen von Millionen Bürgern. Und dann war da eine Pandemie. Die Spanische Grippe hatte nach dem Weltkrieg – je nach Schätzung – zwischen 20 und 100 Millionen Tote gefordert.
Bis zum "Tanz auf dem Vulkan" dauerte es noch. Die "goldene" Ära von Hedonismus und Exzess begann 1924 und währte bis zum Einsturz der Aktienkurse an der New Yorker Börse im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitete. Fünf fette Jahre, mehr waren diese "goldenen Zwanziger" nicht.
Experten gehen davon aus, dass wir auch heute Zeit brauchen werden, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bremsspuren, die Corona verursacht, zu verarbeiten. Nur wie lange wird die Durststrecke dauern? Bis 2024?
Der Psychologe Simon Hahnzog hofft, dass so bald wie möglich Kunst, Kultur und gesellschaftliches Leben intensiv zurückkommen. Dass sich die "aufgestaute Lebenslust" aus den Menschen herausbrechen kann. Auf diese Zeit freue er sich schon, er sehne sich danach. Spannend ist aber die Frage, ob es neben persönlicher Hoffnung auch eine empirisch begründbare Annahme dafür gibt.
Durchaus, meint Hahnzog. Dafür spreche in erster Linie das zentrale Merkmal des Menschen: Wir sind soziale Wesen. "Wir sind abhängig vom Kontakt mit anderen Menschen. Gesundheit ist in der Gründungscharta der WHO nicht ohne Grund als körperliches, geistiges und eben soziales Wohlbefinden definiert." Außerdem gebe es den "Bumerang-Effekt": werde ein Verhalten länger unterdrückt, komme es anschließend umso stärker zurück. Nach Corona werden der Wert und die Bedeutung von Kunst, Kultur und Ausgehen intensiver wahrgenommen werden, da alles so lange ausgeschlossen war.
Hahnzog ist Experte für Fragen, wie der Mensch mit Krisen umgeht. Er meint: "Der Drang der Menschen nach lebendigem Leben und nicht nur absichernder Existenz ist ein starker Veränderer." Je länger die Phase der Verbote dauere, desto stärker sei davon auszugehen, dass sich Kunst und Kultur auch im Untergrund zurückmelden. "Das könnte für deren Diversität und Neuartigkeit eine ähnliche Wirkung haben, wie die ’Goldenen’ 20er des letzten Jahrhunderts. Protest gegen Sanktionen ist nicht nur destruktiv, sondern hat immer auch kreatives Potenzial."
Anfangs werde die Wiederbelebung etwa der Theater und Clubs "das Gemeinschaftserlebnis intensivieren und dessen Wertigkeit und Bedeutsamkeit noch weiter erhöhen". Der Psychologe vermutet: "Bereichernd kommt hinzu, dass sich die Personengruppen, die an diesen Events teilnehmen, verändert haben dürften im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Manche werden ihr Interesse und Bedürfnis nach diesen Facetten ihres Lebens neu entdecken und wiederentdecken – andere, die bislang sehr kunst- und kulturaffin waren, werden sich vielleicht zurückziehen." Der Vielfalt und dem kreativen Output werde das in jedem Fall guttun.
Doch sicherlich werden nicht alle Kulturschaffenden die Coronazeit wirtschaftlich überstehen. "Dies birgt aber zugleich Potenzial für neue Wege oder freie Plätze der Kunst- und Kulturlandschaft, die von neuen Akteuren eingenommen werden."
Vor 100 Jahren konzentrierte sich der kulturelle Puls sehr auf Berlin – das ist heute anders. Berlin war Weltstadt wie Paris oder New York. Auf dem Land sah das ganz anders aus. Constantin Goschler, Historiker an der Ruhr-Universität Bochum, erläutert: "Die Rolle Berlins im damaligen Deutschen Reich lässt sich vielleicht mit New York in den heutigen USA vergleichen: Was uns oftmals als eine pulsierende, kulturell aufregende und kosmopolitische Metropole erscheint, steht in weiten Teilen der USA für alles, was in der Gegenwart abgelehnt wird. Und so gab es auch in den 20er Jahren eine verbreitete Abneigung gegen Berlin, das als Inbegriff der Moderne im negativen Sinne galt."
Volker Kutscher, Autor der Romanvorlagen für die beliebte Serie "Babylon Berlin", würde nicht mit den Menschen von damals tauschen wollen. "Natürlich würde ich gern einen Blick in das Berlin der 20er werfen, aber dort leben? Nein, lieber nicht", sagt der Erfinder von Kommissar Gereon Rath. "Ich bin froh, in der heutigen Zeit zu leben", stellt Kutscher klar. "Natürlich ist längst nicht alles perfekt, doch geht es uns in Deutschland heute so gut wie nie zuvor in unserer Geschichte, nicht nur, was den materiellen Wohlstand angeht. Allerdings wissen wir das nicht immer zu schätzen. Heute geht es darum, die Errungenschaften unserer Republik, die Demokratie, die Meinungsfreiheit, den Rechtsstaat zu bewahren und gegen die Anfeindungen, denen sie zunehmend wieder ausgesetzt sind, zu verteidigen."
Auch der amerikanische Soziologe Nicholas Christakis von der Yale-Universität glaubt, dass es nach der Corona-Krise zu einer "Neuauflage der Goldenen Zwanziger" kommt. Eine Seuche habe neben ihrem biologischen Verlauf auch einen sozialen. "Sie endet erst dann, wenn alle glauben, dass es wirklich vorbei ist." So sei das bei allen großen Pandemien gewesen: Ist das Virus erst mal biologisch kaltgestellt, folgen psychologische und ökonomische Aufräumarbeiten.
Darum rechnet Christakis auch fest mit einem Aufschwung im Corona-Nachklang, weil die Menschen das Geld ausgeben, das sie momentan noch zurückhalten. "Es wird ein Frühling sein, künstlerisch, wirtschaftlich, technologisch und politisch." Epidemien seien wegen der Toten, der zerstörten Lebensgrundlagen und der sozialen Isolation "Zeiten der Trauer". "Nach der Pandemie wird sich das umkehren. Kneipen, Nachtclubs, Erotik, Sexualität – all das wird wieder sehr wichtig werden."