Von Frauke Rüth
An einem Samstag mitten im Lockdown war es so weit: Ich konnte keine Jogginghosen mehr sehen. Den Welttag des Krisenkleidungsstücks hatte ich noch fristgerecht im Januar mit einem besonders wolligen Exemplar zelebriert. Jetzt war mir nach richtiger Kleidung, ja, sogar nach etwas Ausgefallenem zumute – und das, obwohl selbstverständlich keinerlei Anlass dafür bestand. Es sei denn, man zählt einen Ausflug zum örtlichen Supermarkt dazu.
Ich wählte also ein blau geblümtes Hippiekleid sowie einen Flauschpullover in Pastell und fürs Winterwetter vollkommen ungeeignete rote Nappaleder-Stiefelchen. Vorher breitete ich das Outfit aber noch auf dem Schlafzimmerboden aus und fotografierte es auf einem Stuhl stehend. Dazu hatte nämlich das Landesmuseum Württemberg angeregt. Dessen aktuelle Ausstellung "Fashion?! Was Mode zu Mode macht" konnte ich natürlich nicht besuchen, aber über den digitalen Showroom und die sozialen Medien sind Auszüge daraus zu sehen, die vermitteln, wie individueller Stil entsteht und Trends sich entwickeln.
Foto: Frauke RüthUnter anderem stellen dort auch Museumsmitarbeiterinnen Fotos der Kleidungsstücke online, die sie an dem Tag anzuziehen gedenken – und ermutigen andere, es ihnen gleich zu tun. "Warum nicht?", dachte ich und postete meine Klamottenkombination unter dem Hashtag #flatlay auf Instagram. Danach zog ich das Blumenkleid an und ging Milch und Zitronengras einkaufen.
Raffaela Sulzner, die zum Team der Kuratorinnen der Fashion-Ausstellung gehört, vermutet, dass die neu gewonnene verfügbare Zeit, die wir durch Corona haben, dazu führt, dass viele Menschen sich mit der Kleidung in ihrem Schrank genauer auseinandersetzen. Etwa, um sich von Stücken zu trennen, die schon lange nicht mehr getragen wurden. Um eine neue Ordnung zu schaffen, vielleicht aber auch, um Kleidungsstücke neu miteinander zu kombinieren, neue Outfits zu kreieren.
Meine Laune war gestiegen, als ich mich für den Supermarktbesuch anzog. Es hatte mir Freude gemacht, über mein Styling nachzudenken. So wie Tausende von Menschen Spaß daran hatten, bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden die Handschuhe von Bernie Sanders zu feiern. Die braunen Fäustlinge, die ihm eine Lehrerin aus seinem Heimatstaat Vermont gestrickt hatte, brachten Leichtigkeit und Humor in die Veranstaltung. Und davon können wir gerade alle ein wenig mehr brauchen.
Mode macht etwas mit uns. Im besten Fall macht sie sogar klüger. Psychologen bewiesen, dass etwa Probanden, die einen Laborkittel trugen, besser in einem Konzentrationstest unter Ablenkung abschnitten als jene, die Freizeitkleidung anhatten. Der Effekt der weißen Kittel war, dass sich die Testpersonen schlauer fühlten und dadurch leistungsfähiger waren. Bei anderen möchten wir einen möglichst professionellen Eindruck hinterlassen.
Dieser Wunsch besteht auch im Homeoffice weiter. Kuratorin Raffaela Sulzner erklärt: "Was man nun bei Videokonferenzen trägt, darüber wird im Moment vermutlich mehr nachgedacht als über die Wahl des alltäglichen Arbeitsoutfits vor Corona." Sich zu stylen, schöne Kleidung zu tragen, kann aber auch dazu führen, dass man sich in stressigen Lebensphasen wohler fühlt. Mich beruhigt es, über den Ärmel eines Kaschmirpullis zu streicheln, es lässt mich für einen Moment den Alltag vergessen.
In hektischen Zeiten hole ich regelmäßig ein Buch heraus, das ich schon sehr oft gelesen habe, "Frauen und Kleider: Was wir tragen, was wir sind". Die Autorinnen Leanne Shapton, Heidi Julavits und Sheila Heti hatten dafür Fragebögen an 561 Frauen geschickt, darunter Regisseurin Lena Dunham oder Sängerin Kim Gordon, größtenteils aber nicht prominente. Sie wollten herausfinden, was diese über Mode denken. Sie erzählen, warum sie wann welche Kleidung wählen, wie sie sich dabei fühlen, mit was sie besondere Erinnerungen verbinden oder was sie von anderen gelernt haben. Etwa, dass die Suche nach dem perfekten BH Jahre dauern kann oder wie man gekonnt den Pulli in den Hosenbund stopft, ohne, dass es blöd aussieht.
Meine liebste Geschichte im Buch stammt von Leanne Shapton selbst. Sie beschreibt darin, wie sie sich auf einer Party in das Kleid einer anderen Frau verliebt, "es hätte 70er Jahre Yves Saint Laurent sein können oder handgeschneidert". Trotz anfänglicher Skrupel – kann ich jemandem aus meinem Bekanntenkreis etwas nachkaufen? – sucht sie auf Ebay nach diesem Kleid. Und als sie es schließlich findet, kauft sie es sofort. Sie trägt das Kleid fünf Tage hintereinander, es riecht nach ihr, ist mit Babybrei voll gespuckt und irgendwann vollkommen in ihren Schrank integriert: "Inzwischen fühlte sich das Kleid wie ein Teil von mir an." Es ist übrigens von Isabel Marant.
Kaum jemand versteht es so gut wie die französische Designerin, die Bedürfnisse von Frauen zu ermitteln und in etwas zu transformieren, das man auch wirklich tragen will. Marant probiert jeden Entwurf so oft an, bis er ihrer Ansicht nach tadellos sitzt, erst dann geht er in Produktion. Es ist Mode für echte Frauen, die einen anstrengenden Alltag haben, in dem die Jeans nicht zwicken darf, das Shirt nach der 100. Wäsche genau den richtigen Weichheitsgrad erreicht hat und nicht in seine Einzelteile zerfällt. "Es geht ums Wohlfühlen, darum, dass Kleider uns Selbstvertrauen und Freude schenken können", sagte die 53-Jährige vor einigen Jahren dem "New York Magazine". "Manchmal, wenn ich mich bedrückt fühle, gehe ich hin, und kaufe mir etwas Neues und das macht mich glücklich und ich fühle mich besser, als wenn ich zur Psychoanalyse gegangen wäre."
Keiner von uns braucht natürlich noch irgendetwas Neues im Schrank. Es geht nicht ums wahllose Konsumieren. Sondern darum, sich ab und zu etwas Besonderes zu gönnen. Mein blaues Hippiekleid habe ich online über einen kleinen Laden in Philadelphia gekauft – nachdem ich drei Jahre lang virtuell um das Modell herumgeschlichen war. Weil: langer Transportweg, schlechte CO2-Bilanz, hohe Steuern, die darauf zu entrichten waren. Das Kleid wird jedes Jahr in einem geringfügig anderen Farbton als im vergangenen neu genäht. 2021 schien mir das Blau perfekt und ich drückte auf den Bezahlbutton. Nach zehn Tagen war es da und ich habe es mir abends so hingehängt, dass ich es morgens nach dem Aufwachen sehen konnte. Es machte mich zufrieden.
INFORMATIONEN
Die virtuelle Ausstellung des Landesmuseum Württemberg "Fashion?! Was Mode zu Mode macht" läuft noch bis zum 25. April unter https://www. landesmuseum-stuttgart.de.
Das Buch "Frauen und Kleider: Was wir tragen, was wir sind" ist im S. Fischer Verlag erschienen, 445 Seiten.