Von Ute Teubner
Heidelberg. Ja, ich weiß noch, wie das ist, erstmals mit dickem Babybauch im Bus zu stehen - und keiner macht dir Platz. Jetzt, drei Kinder später, will ich meinem Jüngsten zeigen, wie er sich mit dem Fahrrad durch den morgendlichen Verkehr kämpfen kann. Ohne am Ende den Kürzeren zu ziehen und im Straßengraben zu landen.
Ein schwieriges Unterfangen, das vernunftsmäßig auf der Stelle aufgegeben werden müsste: Rasende Autos, bimmelnde Straßenbahnen, tückische E-Roller, rabiate Radfahrer und - das gehört zur Wahrheit dazu - ehemals geistesgegenwärtige Fußgänger, die zum willenlosen "Smombie" mutiert sind, machen es einem Zehnjährigen unmöglich, den Überblick im täglichen Straßenkampf zu behalten. Dabei will der doch bloß zur Schule. Und eben mit dem Rad. Warum? Aus Rücksicht natürlich - der Umwelt gegenüber.
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Doch was heißt hier schon natürlich? Ist es nicht heute vielmehr so, dass eben diese Rücksicht auf dem Rückzug ist? Und eigene Interessen ganz ohne Rücksicht auf Verluste im Wortsinn durchgeboxt werden? Denn zunehmend gilt das Faustrecht (statt zum Beispiel das Verkehrsrecht), wer zuerst kommt, mahlt zuerst ("first come, first served") und die Blöden sind immer die anderen.
Bademeister, Notärzte, Feuerwehrleute, Schiedsrichter und Busfahrer etwa, die spezielle Anti-Aggressionskurse besuchen müssen, um Muskelspielen und Verbalentgleisungen der Freibad-Rowdys, Gaffer und Poser Einhalt gebieten und einfach nur ihre Arbeit tun zu können. Konflikte eskalieren schneller, physisch als auch verbal. Und wer sich "politisch korrekt" gibt, ist entweder ein "Gutmensch" oder gleich ein "Opfer".
Am deutlichsten wird die zunehmende Aggressivität laut einer aktuellen Umfrage des Allensbach Instituts im Straßenverkehr wahrgenommen, wo es deutlich mehr Verkehrsteilnehmer als noch vor ein paar Jahren gibt: So spürten 90 Prozent der Befragten im Alter zwischen 30 und 59 Jahren die Ungeduld und Reizbarkeit aller Verkehrsteilnehmer. Und auch, wenn nicht jeder Autofahrer mit purer Absicht einen Radfahrer schneidet und nicht jeder Radfahrer Fußgänger per se als Verkehrshindernisse betrachtet: In der Tat scheinen Zebrastreifen und Tempolimits häufig als Firlefanz betrachtet zu werden, der dem eigenen Recht auf Selbstverwirklichung im Wege steht.
Im Internet wird der Ton ebenfalls rauer, das bestätigten insgesamt 54 Prozent der Studienteilnehmer. In der Anonymität sozialer Netzwerke wird hemmungslos beleidigt und gemobbt - und wenn in der virtuellen Welt die Schranken fallen, dann auch im alltäglichen Umgang miteinander. Sogar im Gerichtssaal. Oder wie sonst ist das kürzlich gesprochene Urteil zum Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast zu werten, die auf Facebook mit massiven Beleidigungen überzogen wurde - und diese nun auch noch hochrichterlich hinnehmen muss?
Auf die Frage "Was verändert sich in unserer Gesellschaft?" gaben 81 Prozent der Befragten an, die Aggressivität nehme zu, 70 Prozent waren der Meinung, Regeln würden immer weniger beachtet und 73 Prozent sehen den Egoismus auf dem Vormarsch. Außerdem befanden gut zwei Drittel: Die Menschen haben immer weniger Respekt voreinander. Und das, obwohl offensichtlich ein nicht zu unterschätzender Teil von ihnen (die Studie soll ja repräsentativ sein) genau diese Entwicklung klar erkennt (und wohl auch bedauert), nicht aber abzuwenden vermag.
Jeden Tag geht es da draußen also ein Stückchen ruppiger zu. Schade eigentlich. Schließlich lebt eine Gesellschaft doch von Wertschätzung, gegenseitiger Rücksichtnahme und Hilfeleistung. Eigenschaften übrigens, die laut Evolutionsanthropologe Michael Tomasello keineswegs anerzogen, sondern - man höre und staune - angeboren sind. Doch was, bitte schön, bleibt von all diesen guten Anlagen übrig, sobald wir den Kinderschuhen entwachsen sind?
Nicht viel, meint der Spiegel-Journalist Jörg Schindler, der in "Die Rüpel-Republik" (Fischer Taschenbuch) gar von einer "merkwürdigen anti-sozialen Seuche" spricht, die uns befallen habe, von einer "um sich greifenden gesellschaftlichen Verwahrlosung, die ganz oben beginnt". Und von der "wachsenden Unfähigkeit, Menschen unter Menschen zu sein".
Kaum in der Pubertät angekommen, wird dem Lehrer der "Stinkefinger" gezeigt (und wir reden hier nicht etwa von einer sogenannten Brennpunktschule). "Die Jugendlichen", konstatiert Schindler lakonisch, "zeigen allenfalls nur noch Schmauchspuren von Disziplin und Respekt." Und die Eltern klatschen Beifall. Denn sie sind das Vorbild.
Linda Kaiser, stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Knigge Gesellschaft in Essen, kann das bestätigen: "Der Egoismus im Umgang miteinander wird von der Elterngeneration vorgelebt." Ob Döneressen im Zugabteil oder Telefonieren an der Bäckertheke: "Man beachtet und achtet sich nicht mehr", sagt die Etikette-Expertin.
Sie beklagt: "Wie viele Menschen laufen aus dem Kaufhaus mit Stöpseln im Ohr und Smartphone in der Hand, ohne links und rechts zu schauen und dem anderen die Tür aufzuhalten?" Der heutige Alltag sei von "vielen egoistischen Aktivitäten" und einem "Trend zu weniger Rücksichtnahme" geprägt, ist sich Kaiser sicher. Wobei es oftmals gerade diese Menschen seien, die von anderen "gesteigerte Aufmerksamkeit" einforderten.
Rücksicht stammt vom lateinischen "respicere" (zurückschauen) und bedeutet, die Umstände eines anderen zu sehen und zu berücksichtigen. Der Duden spricht gar von einer "feinfühligen Beachtung" der "besonderen Bedürfnisse anderer". Und so warte ich also artig, um das Auto vor mir in Ruhe in der Parklücke rangieren zu lassen. Doch nicht etwa ein dankbares Lächeln ist der Lohn für Geduld und Güte - nein, ich kassiere empörte Blicke und wilde Gesten, die mich zum Teufel jagen.
Auch scheint es mittlerweile ein Zeichen von Schwäche zu sein, den unvermeidlichen Fußgänger-Frontalzusammenstoß auf dem Gehweg proaktiv vermeiden zu wollen. Und ist es wirklich verwerflich, beim 180-Grad-Showdown auf dem Altstadtgassenasphalt liebenswerterweise den Rückwärtsgang einzulegen (und das sogar für den "Achtung, hier komm ich!"-SUV)?
Es ist wirklich schwer, rücksichtsvoll zu sein. Besonders heute. Auch Knigge-Trainerin Linda Kaiser beobachtet eine Verschiebung der Prioritäten: "Die Manieren sind etwas verloren gegangen. Das, was man früher als selbstverständlich empfunden hat, wird heute hinterfragt."
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"Immer weniger Menschen scheinen sich an Grundregeln menschlichen Zusammenlebens zu halten", skizziert Jörg Schindler den Ist-Zustand. Im Gegenteil: "Der Regelbruch ist zum Regelfall geworden - und Querulanten sind diejenigen, die auf ein Mindestmaß an Anstand pochen." Ein Verhalten, das sich durch alle soziale Schichten und jedes Alter zieht. "Was hat uns so verrohen lassen?", fragt der Journalist daher in seiner "Rüpel-Republik". Und er gibt Antworten wie diese: "Unsere Staatsreligion lautet längst Individualismus."
Oder: "Sind wir wirklich miteinander verbunden, wenn wir 24 Stunden am Tag miteinander verbunden sind?" Linda Kaiser erlebt in der Praxis immer mehr Leute, die die direkte Ansprache des Gegenübers im persönlichen Gespräch oder Telefonat scheuen. Kontakt kann nur noch per E-Mail oder App hergestellt werden - wer sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, weiß womöglich gar nicht mehr, wie er anderen begegnen soll.
Ja, die "anti-sozialen Medien": In der Anonymität des Internets tut sich ein riesiger Sumpf der offenen Geringschätzung und Ausgrenzung auf, die längst zum Mittel einer Politik geworden sind, in der die Populisten mit ihren Angststrategien weltweit auf dem Vormarsch sind. Aber sinkt nicht - zumindest bei uns - die Arbeitslosenrate, wächst nicht der materielle Wohlstand? Doch, doch, meint Schindler, aber: "Zufrieden sind die Wenigsten."
Seine Vermutung: "Ganz offensichtlich geht den Menschen in Wachstumsnationen etwas verloren. Ganz offensichtlich reicht es ihnen nicht, wenn sich der materielle Wohlstand des Landes, in dem sie leben, mehrt. Zumal dieser Wohlstand noch nie derart ungleich verteilt war wie heute. Das schürt den Missmut aller gegen alle."
Und nun? Knigge-Fachfrau Linda Kaiser schwört selbstredend auf "gute Manieren im Alltag", schließlich bestehe da ein Zusammenhang zwischen äußerem Verhalten und innerer Haltung. Dabei gehe es keineswegs um "steife Etikette", als vielmehr um die "Grundsätze des Miteinanders": "Manieren sind das Handwerkszeug, um dem anderen gegenüber Respekt zum Ausdruck zu bringen", ist Kaiser überzeugt. Hier müsse man auch mal "die eigene Komfortzone verlassen, sich selbst zurücknehmen". Ihre Klienten leitet Kaiser an, "mal wieder mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen und anderen entgegenzukommen" - um im Umkehrschluss die gleiche Wertschätzung zu erhalten: "Was ich einfordere, muss ich bereit sein zu geben."
Für ein neues Mit- und Füreinander plädiert auch der Soziologe Heinz Bude: mehr "Solidarität" (so der Titel seines aktuellen im Hanser Verlag erschienenen Buches), mehr "Wir" statt immer mehr "Ich" im knallharten Versorgungs- und Verdrängungswettbewerb. "Nervöses Multitasking, die beständige Vermischung von beruflichen und privaten Tätigkeiten und die Sucht nach Informationen" bezeichnet Bude als "ruinöse Verhaltensweisen". Sein Rat: "Man muss seine Kräfte einteilen, seinen Rhythmus finden ..."
Jörg Schindler wiederum will das nicht mehr funktionierende "Immunsystem der Gemeinschaft" fit gemacht sehen. Er schlägt vor: "Um es wieder zu aktivieren, wäre es den Versuch wert, neue Formen des Zusammenlebens unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts auszuprobieren." Ob mit derlei solidarischen Projekten der "anti-zivilen Seuche", dem "drastischen Verlust sozialen Kapitals" entgegengewirkt werden kann? Schindlers Botschaft lautet: "Einfach mal anfangen." Vor der eigenen Haustür. Einfach mal selber machen. Mit anderen. Zusammen. Kollektiv gesteuerte Prozesse ...
So wie neulich, freitags, zwischen all diesen Menschen, die - so unterschiedlich sie auch waren - eines einte: der Wunsch und Wille, endlich Verantwortung zu übernehmen für ein besseres Klima, eine gemeinsame Zukunft. Aus Rücksicht. Denn es geht nur gemeinsam. Und mittendrin mein Fahrrad und ich.