Mitglieder des Stammes der Tlingit aus Angoon in Alaska beim Potlatch 1904 in Sitka (Alaska). Foto: Elbridge W. Merrill/Repro: Satorius
Von Christian Satorius
Village Island. Daniel Cranmer hat es Weihnachten mit dem Schenken ein wenig übertrieben – das zumindest werfen ihm die kanadischen Behörden vor, als sie ihn im Februar 1922 festnehmen und zusammen mit einigen seiner Gäste kurzerhand inhaftieren. Ganze sechs Tage lang hat der angesehene Häuptling der Kwakwaka’wakw-Indianer seine 300 Gäste im kanadischen Village Island bewirtet und beschenkt – bis er selbst völlig ruiniert war. Mehrere Motorboote, zwei Dutzend Kanus, 30.000 Decken, 1000 Säcke Mehl, etliche Musikinstrumente und Grammophone sowie wertvolle handgefertigte Masken, bündelweise Bargeld und natürlich unzählige Kleider und Schmuckstücke für die Damen.
Mit diesen üppigen Geschenken hat der Häuptling allerdings gegen ein Gesetz verstoßen, dass 1884 erlassen wurde, um genau diese Art des Schenkens zu unterbinden, die sich Potlatch nennt. "Potlatch" heißt in der Sprache der indianischen Ureinwohner des Nordwesten Amerikas, dem Chinook, soviel wie "Gabe" oder auch "geben" und bezeichnet ein Geschenkefest, das traditionellerweise im Winter abgehalten wird.
Seit dem Verbot versuchen nun einige ganz gewitzte Indianer wie Daniel Cranmer den wahren Grund der Feierlichkeiten zu verschleiern, indem sie ihr Potlatch ganz einfach zur Zeit des christlichen Weihnachtsfestes abhalten. Bei einer derartigen Geschenkeflut und so vielen Gästen ist das mit der Geheimhaltung natürlich nicht ganz einfach und so ist das Potlatch des Daniel Cranmer Weihnachten 1921 dann auch erst einmal das letzte seiner Art – vorläufig zumindest.
Chinook-Experte George Shaw beschreibt in seinem Grundlagenwerk über diese Sprache "Chinook Jargon and How to Use it" im Jahr 1909, worum es beim Potlatch geht: "Die eingeladenen Gäste aus nah und fern feiern, singen und tanzen. Dann wird der gesamte Besitz verschenkt und unter den Gästen verteilt. In nur einer einzigen Stunde wird so das gesamte Hab und Gut weggegeben, das ein Leben lang angesammelt wurde. Ein Häuptling wird so im Handumdrehen völlig mittellos. Aber er wird dafür belohnt mit dem Ansehen und dem Respekt seiner Gäste."
Ja mehr noch: Je wertvoller und reichhaltiger die Geschenke sind, die den Gästen überreicht werden, desto größer wird dadurch auch das Ansehen des Schenkenden und seiner gesamten Ahnenreihe in der indianischen Gesellschaft. Kein Wunder also, dass selbst Häuptlinge in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Potlatch abhalten, höchstens zwei, mehr können sie sich ganz einfach nicht leisten. Zumindest so lange nicht, bis der Weiße Mann ins Land kommt. Mit ihm nämlich ändert sich so einiges in der indianischen Kultur und das traditionelle Geschenkefest eskaliert völlig.
Vor der Ankunft der ersten Europäer im Nordwesten Amerikas wird das Potlatch nur zu ganz wenigen, besonderen Anlässen abgehalten, etwa wenn ein Häuptling stirbt und ein neuer bestimmt werden muss, die Geburt des ersten Sohnes hochrangiger Persönlichkeiten ansteht oder auch eine Hochzeit in der Oberschicht des Stammes. Beim Potlatch werden dann bestimmte Titel weitergegeben, Privilegien und auch die bei den Indianern so wichtigen Namen. All das muss von den anwesenden hochrangigen Gästen bezeugt werden.
Mit den Europäern, die ins Land kommen, prallen nun die Kulturen aufeinander. Der ursprüngliche, spirituelle und soziale Charakter des Potlatch wird jetzt mehr und mehr verdrängt vom materielleren und egozentrischeren Denken der Europäer. Erstmals ist es den Indianern nun auch möglich, mit geregelter Arbeit Geld zu verdienen und anzuhäufen, ja sogar Schulden zu machen, was vorher so nicht ging. Im Zuge des Goldrausches kommen einige von ihnen auch quasi über Nacht zu gewissem Reichtum.
Parallel dazu findet ein Generationswechsel in den Stammesgemeinschaften statt: Immer mehr der erfahrenen und traditionell denkenden Älteren fallen den Kriegen mit den Weißen zum Opfer oder auch den von ihnen eingeschleppten Krankheiten, sodass bald immer jüngere unerfahrene Häuptlinge die Führung der Stämme übernehmen müssen, die immer häufiger auch unter dem Einfluss des europäischen Denkens stehen. Mit anderen Worten: Plötzlich leisten sich auch ärmere Stammesangehörige das traditionelle Potlatch der Oberschicht, während die jungen Häuptlinge geradezu darin wetteifern sich mit immer wertvolleren Geschenken gegenseitig zu übertrumpfen. So werden beispielsweise handgefertigte und kostbar bestickte Decken noch weiter aufgewertet, indem man ihnen Geldscheine anheftet. Ganze Stämme treten nun in regelrechte Geschenkwettbewerbe.
Schließlich eskaliert das Potlatch völlig, als die kostbarsten Geschenke vor den Augen der Anwesenden zerstört werden. Diese Zerstörung der wertvollen Gaben nutzen die rivalisierenden Häuptlinge und Stämme auch dazu, ihre Macht zu demonstrieren. Der Mindener Anthropologe und Ethnolge Franz Boa, der das Geschenkefest Potlatch jahrelang erforscht hat, schreibt darüber in einer viel beachteten wissenschaftlichen Arbeit zum Thema: "Wenn der Rivale nun nicht in der Lage ist, seinerseits einen noch kostbareren oder zumindest doch gleichwertigen Gegenstand zu zerstören, dann bedeutet das, dass sein guter Name zerstört, also sein guter Ruf beschädigt ist."
Das Potlatch führt so im Laufe der Zeit dazu, dass sich mehr und mehr Häuptlinge vollkommen ruinieren, ja ganze Stämme völlig mittellos dastehen, und obendrein sogar hoch verschulden, nur um noch mehr Geschenke machen zu können.
Die kanadische Regierung erkennt bald die Bedeutung des Geschenkefestes für die indianische Kultur, aber auch die zerstörerische Kraft, die es angenommen hat, und verbietet das Potlatch kurzerhand 1884. Zuwiderhandlungen werden mit zwei bis sechs Monaten Haft bestraft. Erst 1951, als die Kultur der indianischen Ureinwohner wieder mehr geachtet wird, lassen die Behörden das traditionelle Geschenkefest wieder zu. Heute darf sich also jeder wieder nach Herzenslust beim Potlatch ruinieren, wenn ihm der Sinn danach steht. Aber das kann ja so manch einer auch ohne traditionelle Geschenkefeste ganz gut.