Von Daniel Schottmüller
Mannheim. Es sind nicht unbedingt Fragen, mit denen man während einer Zoom-Konferenz rechnet: "Was bedeutet es für dich, verliebt zu sein? Was machst du in so einer Situation?" Masen Abou-Dakn lächelt die Kursteilnehmerin freundlich an. Und doch erinnert die Situation ein bisschen an ein Verhör. Jetzt, da die junge Frau mit den braunen Locken groß auf dem Bildschirm auftaucht, sind die Augen aller auf sie gerichtet. "Ich schätze mal, ich bin glücklich", versucht sich die vielleicht 20-Jährige zaghaft an einer Antwort. "Aber was tust du konkret, wenn du verliebt bist?" Dass der Referent es genau wissen will, hat nichts mit Übergriffigkeit zu tun. Im Gegenteil: Masen Abou-Dakn ist hier, um zu helfen. Er möchte vermitteln, wie man gelungene Liedtexte schreibt – solche, die berühren.
Abou-Dakn ist in der Branche eine Nummer. Der Sänger/Songschreiber, Textcoach und Songdramaturg unterrichtet deutschlandweit – unter anderem an der Popakademie Mannheim. Seine Bücher über Songwriting gehören zu den erfolgreichsten Musiktheoriewerken auf dem deutschsprachigen Markt.
Verständlich, dass die aus ganz Deutschland zugeschalteten Teilnehmer darauf brennen, von ihm zu erfahren wie man gute Songs schreibt. Das wird schon bei der Vorstellungsrunde des Online-Seminars "Songwriting" deutlich. Da ist zum Beispiel die Pop-Sängerin, die hinterfragt, warum ihre Texte immer so düster ausfallen. Oder der braun gebrannte Soul-Sänger mit dem Wuschelkopf, der bislang nur englische Songs geschrieben hat. Da sind solche, denen die Worte fehlen und solche, denen es schwerfällt, sich kurzzufassen – "gerade im Refrain".
Sie alle eint, dass sie etwas dazulernen möchten – und dass sie schnell waren. Als die Popakademie Mannheim sich im Spätherbst dazu entschloss, im Zuge des Lockdowns eine Reihe ihrer Online-Angebote kostenfrei zur Verfügung zu stellen, waren sie die ersten elf, die auf den Anmelde-Button klickten.
Jetzt, da es einige Wochen später soweit ist, lautet die erste Lektion des Vormittags: Nichts ist peinlich. Der Referent geht da mit gutem Beispiel voran. Masen – unter Liedermachern duzt man sich – stört sich nicht daran, dass die bunten Handschrift-Notizen auf seinem Touchpad im Laufe des vierstündigen Seminars vom Krakeligen ins Unleserliche schlingern. Er erfindet auch mal ad hoc einen Schlager, den er selig schunkelnd vorsingt. Und wenn seine Augen, die sonst so neugierig hinter der Hornbrille hervorblitzen, vor Rührung feucht werden: Sei’s drum. Er hat schließlich gerade die dramatische Liebesgeschichte des Titanic-Films nacherzählt.
Zulassen, das hat bei dem Mann, dessen Stimme immer leicht heißer klingt, durchaus Methode. Denn Masen ist zwar aus einem Studio in Berlin zugeschaltet, der Dozent gibt den Seminarteilnehmern aber den gleichen Tipp mit auf den Weg, den er sonst für seine Studenten in Mannheim parat hat. Sie sollen das abschütteln, was er "das Schultermännchen" nennt: "Diese Stimme in euch, die sagt: ‚Das bringt doch eh nichts’, ’das ist Zeitverschwendung’, ’das können andere sowieso viel besser als ich ...‘" Gute Songs schreibe nicht derjenige, der alles hinterfragt, sondern wer sich etwas zutraut. Zu warten, dass ihn hoffentlich irgendwann einmal die Muse küsst, dafür ist Masen seine Zeit zu schade: "Inspiration ist ein Arbeitsprozess, den man anregen kann", erläutert er seine Sichtweise. Diesen Prozess kann man bei der jungen Frau mit den Locken in Echtzeit verfolgen. Wo sie anfangs noch mit ihrem Schultermännchen gerungen hat, sagt sie jetzt: "Wenn ich verliebt bin, denke ich nur noch an die andere Person." Ein guter Anfang. Daraufhin springt ihr die jüngste Teilnehmerin zur Seite: "Wenn ich verliebt bin, habe ich auch Angst", gesteht die Schülerin mit den blonden Haaren. "Bei mir schwingt immer die Furcht mit, dass alles wieder ganz schnell enden könnte – und wie traurig ich dann wäre." Masen ist beeindruckt: "Ich kaufe dir ab, was du sagst. Und ich möchte direkt mehr über dich erfahren – geht es euch anderen auch so?" Die Teilnehmerrunde nickt andächtig vor den Laptop-Kameras.
Sich angreifbar machen: Für Masen hat das etwas mit künstlerischer Haltung zu tun. Wie die Haltung eines Musikers in einem Text zum Ausdruck kommen kann, führt der Referent anhand des Peter-Fox-Songs "Schwarz zu Blau" aus.
Authentizität direkt in den ersten Zeilen: "Komm aus'm Club, war schön gewesen ..." Hier spiegele sich wider, was im Leben von Peter Fox zu diesem Zeitpunkt passiert sei, erklärt Masen. "Die erfolgreiche Zeit mit seiner Dancehall-Gruppe Seeed ist zu diesem Zeitpunkt erst einmal zu Ende. Genau wie der Ich-Erzähler sich den Weg durch ein gefährliches nächtliches Berlin bahnen muss, kommt auch Fox ’aus’m Club’: Er wagt sich als Solokünstler hinaus ins Ungewisse, muss sich neu orientieren und alleine zurechtfinden."
Aber weg von der Meta-Ebene. Anhand von "Schwarz zu Blau" erklärt Masen ganz konkret die Werkzeuge, die Songschmiede einsetzen. "Der Inhalt findet in den Strophen statt, die Emotionen im Chorus." Diese Aufteilung sei genreunabhängig zu finden, erklärt der Dozent. "Der Chorus fasst zusammen, wie es einem nach den Beschreibungen der Strophen geht. Dieses Muster findet ihr in einem Techno-Song wie ’Hyper, Hyper’ von Scooter genauso wie bei ’We are the Champions’ von Queen." Apropos Genre-übergreifend: Wer genau hinschaut, könne feststellen, dass Reinhard Mey in "Über den Wolken" ähnlich vorgeht wie Peter Fox in "Schwarz zu Blau": "In den Strophen wird szenisch beschrieben, hier werden Details geschildert. Erst danach kommt das eigentliche Gefühl zum Ausdruck – bei ’Über den Wolken’ ist das die Sehnsucht."
Masens Einstiegsfrage kommt also nicht von ungefähr. Denn auch ein gutes Liebeslied braucht neben der Emotion, die entscheidenden Details, die zu diesem Gefühl hinleiten. Gemeinsam sammeln die Teilnehmer in den nächsten Minuten Ticks, Gewohnheiten, kleine Dinge, die sie tun, wenn sie verliebt sind.
Es ist ein Austausch auf Augenhöhe. Wo sich der Dozent zu Beginn des Seminars noch darum bemühen musste, jeden einzubinden, bringen sich jetzt alle Elf ein. Und wer zwischendurch eine schöpferische Toilettenpause einlegen muss, beeilt sich beim Verlassen des Badezimmers sichtlich, um wieder schnell vor seinen Laptop zurückzukehren.
Nachdem jeder eine gedankliche Verliebtheitsliste erstellt hat, ermuntert Masen die jungen Frauen und Männer dazu, sich auf die Worte und Zeilen zu reduzieren, die ihr oder ihm am relevantesten erscheinen. "Wir sind Dichter, wir verdichten", ruft der Dozent gut gelaunt. Eine Regel, die man sich einprägen kann.
Dogmatisch, soll es im Songwriter-Seminar aber nicht zugehen. Als eine Teilnehmerin gleich zweimal nachfragt, ob bestimmte Schreibtechniken "erlaubt" sind, beschwichtigt Masen: "Wir alle sind Universen, lass dich von niemandem einschränken – auch nicht von mir." Narrative Experimente sind erwünscht. Man könne sie selbst in Schlagertexten finden, streut der Referent weiteres Fachwissen ein. "’Griechischer Wein’ von Udo Jürgens, zum Beispiel. Wenn ihr euch den Text genauer anschaut, habt ihr gleich mehrere Perspektivwechsel: In der ersten Strophe erzählt der Deutsche, im Refrain die griechischen Gastarbeiter. Und in der zweiten Strophe schildert der Deutsche, was ihm die Gastarbeiter erzählt haben."
Masens Abschlussbotschaft: Alles ist erlaubt. Nur eins darf natürlich nicht zugelassen werden: dass am Ende das Schultermännchen obsiegt.
Info: Masen Abou-Dakn: "Songtexte schreiben – Handwerk und Dramaturgie im Songwriting", Autorenhaus, 19,99 Euro. "Mehr als nur Worte – Das Kreativbuch für Songwriter und Musiker", Schott-Verlag, 24 Euro.