Von Lorenz Wagner
Heidelberg. Das Auto rollte aus, wenige Meter vor ihrem Haus blieb es stehen. Ein junger Mann sprang heraus. Er klappte die Motorhaube auf. "Das darf nicht wahr sein!", schimpfte er.
Kai trat aus dem Vorgarten. Es war Vormittag, ihre Straße lag verlassen da. Kai, seine Eltern und seine beiden Schwestern wohnten auf dem Campus. Selten verirrte sich hier ein Auto her.
"Hallo. Ich bin Kai." Der Mann beachtete ihn nicht. "Fährt dein Auto nicht?" "Nein", stieß der Mann aus. Wie sollte er ins Institut kommen? Er würde zu spät kommen. Am Tag des Examens! Er würde durchfallen.
Kai drehte sich um und lief weg, nahm etwas heimlich aus dem Flur. Der Mann setzte sich wieder in den Wagen, drehte den Zündschlüssel, der Motor ruckelte und erstarb vollends. Da kam schon wieder dieser Junge. Was zum Teufel wollte er? Er hielt etwas in der Hand.
"Hier", sagte Kai. "Du kannst unser Auto nehmen."
Kai als Kind. Foto: zgKai liebte die Menschen. Schon als Kind von zwei Jahren wand er sich aus der Hand des Vaters und lief zu den Leuten hin: zu den Passanten, den Alten, die auf den Bänken saßen und sich in der Sonne wärmten. Kai umschlang ihre Beine, ohne etwas zu sagen. Meist erstarrten die Leute.
Aber blickten sie nach unten und sah Kai nach oben, fingen sie an zu lachen. Kai sprach mit den Händen. Und strahlte von innen. Er wärmte die Alten mehr als die Sonne. Bald saßen sie wegen ihm auf den Bänken, dem Jungen, der erst seit Kurzem in Rehovot wohnte.
Kai war in Deutschland auf die Welt gekommen, in Heidelberg. Das war 1994, und schon als der Sohn wenige Tage alt war, erkannte sein Vater, Henry Markram, dass Kai anders war. Ständig spürten seine Augen Geräuschen hinterher, als sei er im Alarmbetrieb. "Keine Sorge", sagten die Ärzte zu ihm und seiner Frau Anat, "alle Tests sind gut".
Und so ging das Leben der Markrams seinen Gang. Auf die Wiege folgte der Buggy, dann das Dreirad, im Haus hörte man Lachen und fröhliches Geschrei. Sie tobten in allen Sprachen, Englisch, Hebräisch, Deutsch. Henry stammte aus Südafrika, Anat aus Israel. Henrys Arbeit hatte sie nach Heidelberg geführt. Er war Hirnforscher. Früh hatte er sich in der Neurologie einen Namen gemacht, war ins Team von Bert Sakmann gekommen, dem Medizin-Nobelpreisträger. Ans Max-Planck-Institut für medizinische Forschung.
Kai als Jugendlicher. Foto: zgDie Familie liebte Heidelberg. Die bunten Häuser, die verwinkelten Gassen, den Neckar, das Schloss, am Wochenende fuhren sie aufs Land, gingen Spargel stechen, schwimmen, Äpfel pflücken, Eis laufen, es war ihre schönste Zeit, die Sorgen weit hinterm Horizont.
Zwei Jahre blieben sie, dann kam der Ruf aus Israel. Der Post-Doktorand Markram hatte gehalten, was man sich von ihm versprochen hatte. Er hatte erforscht, wie Hirnzellen miteinander kommunizieren, eine Methode erfunden, mit der man ihnen dabei zusehen konnte, eine Methode, die bald in allen Laboren der Welt angewandt wurde. Mit gerade einmal 35 Jahren ging Henry an das renommierte Weizmann-Institut, wo er Professor werden, ein Labor aufbauen und seine eigene Forschungsabteilung leiten sollte.
Heute ist er einer der bekanntesten Hirnforscher der Welt. Er gewann Preise, wurde Professor und initiierte ein Projekt, das sich vornahm, das Gehirn nachzubauen. Die EU gab eine Milliarde Euro Fördergeld. Dazu schwang er sich zum Experten für Autismus auf. Ein drängendes Thema. Seit der Jahrtausendwende, so die US-Gesundheitsbehörde, hat sich die Zahl der autistischen Kinder verdoppelt. Eines von 68. Die Forscher sprechen von einer Epidemie. Nach fünfzehn Jahren der Forschung ist Markram zu Erkenntnissen gekommen, die auf den Kopf stellen, was die Welt über Autisten sagt. Erst Kai ließ ihn verstehen, sagt er.
Auch mit drei Jahren wollte Kai kaum sprechen. Er hatte einen unbändigen Bewegungsdrang, er schrie viel. ADHS, vermutete Henry. Doch mit der Zeit wurden die Hinweise klarer. Wurde Kai an den falschen Platz gesetzt, schlug er um sich. Auch der Umgang mit Menschen änderte sich. Wie früher lief er zu ihnen, er sprach sie an, wie die Sprachlehrerin es ihm beigebracht hatte - doch seine Worte hatten nicht den Zauber seiner Umarmungen. Kai, der früher um die anderen kreiste, kreiste nun um sich selbst. Er wird doch nicht ..., dachte sich Henry.
Autismus. Ärzte nennen es Entwicklungsstörung. Ursache? Unbekannt. Autismus ist im Erbgut angelegt, ausgelöst wird es im Mutterleib durch Umweltfaktoren, etwa Medikamente. Es muss aber weitere Faktoren geben. Es gibt Zwillinge, gleiche Gene, und ein Kind ist Autist, das andere nicht. Was nach der Geburt geschieht, spielt eine Rolle.
Autisten, so behaupten die alten Bücher, können sich nicht in andere hineinversetzen. Sie ziehen sich zurück, haben Rituale. Jeder Autist ist anders. Man spricht von einem Spektrum. Manche bedürfen der Pflege, andere leben ein eigenständiges Leben. Sie wehren sich dagegen, "gestört" genannt zu werden. Besonders bekannt ist Asperger, er gilt als milde Form. War Kai einer?
Ärzte widersprachen. Autisten gehen nicht so auf Menschen zu wie Kai. Er sei ja "hypersozial". Aber was war es sonst?
Leid und Sorgen lagen bei Markram im Kinderzimmer und seine geachteten Aufsätze vermochten seinem Kind weniger zu helfen als das Liederbuch, aus dem der Vater vorsang. Markram nahm eine Auszeit, ein Jahr Amerika. Was weiß die Forschung, und was kommt davon in den Kliniken an? Als das Jahr vorbei war, wusste er, wie weit weg die Forschung vom Leben war. Kai blieb ein Rätsel, im Urlaub trat er zur Kobra eines Schlangenbeschwörers und tätschelte sie.
Markram reiste mit ihm zu den besten Ärzten der Welt. Endlich die Diagnose, Asperger. Es hieß damals: Mangel an Empathie, soziale Defizite. Als Gegenmittel: Gehirn anregen. Aus Markrams heutiger Sicht alles falsch.
Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte: Wie ein weltbekannter Hirnforscher und sein Sohn unser Bild von Autisten für immer verändern. Europa Verlag. 216 Seiten. 18,90 Euro.Die Sache mit der Empathie basierte auf einem Experiment: In einem Spiel legt die Puppe Sally eine Murmel in einen Korb und geht hinaus. Herein kommt die Puppe Anne, sie sieht die Murmel, nimmt sie aus dem Korb und versteckt sie in einer Schachtel. Als Sally zurückkehrt, werden die Kinder gefragt, wo sie die Murmel suchen wird. Im Korb, sagt das normale Kind. In der Schachtel, sagen fast alle autistischen Kinder. Sie können sich nicht einfühlen, so die Fachwelt.
Aber warum hatte Markram bei Kai das Gefühl, von ihm durchschaut zu werden? Wie schaffte Kai es, ihn und Kamila zu piesacken? Kamila seine zweite Frau, sie kamen zusammen, als Kai sechs war. Kamila ist Verhaltensforscherin. Wenn Kai sie ärgern wollte, stellte er sich auf die Bordsteinkante. Er wusste, was das auslöst.
Die beiden redeten bald fast nur noch über Kai. Wie verhielt er sich? Dieses Tätscheln der Kobra, wo kommt so was her? Nervenzellen können Signale verstärken oder schwächen. Den Impuls, eine Kobra zu tätscheln, sollte ein Gehirn hemmen. Lag hier das Problem? Zellen, die nicht hemmen?
Sie machten Versuche mit Ratten, testeten deren hemmende Hirnzellen, über Monate: nichts. Sie wollten aufgeben, da sagte ihre Mitarbeiterin Tania Rinaldi: Ich teste mal die Zellen, die Signale verstärken. Treffer. Hochleistungszellen, unglaublich lernfähig, die Eindrücke rasten nur so. Markram konnte es kaum fassen: Autisten spürten nicht zu wenig, sie spürten zuviel. Ihr Rückzug ist nicht die Krankheit - er ist die Reaktion!
Kai muss in einer ungeheuer intensiven Welt leben. Was Gesunden Freude bereitet, ist für Autisten Qual. Die Stimme der Mutter, die Lampe am Wickeltisch, das Wolljäckchen: ohrenbetäubend, gleißend, wie Schmirgelpapier. "Wir hätten Kai als Kind zu Hause lassen müssen", sagt Markram heute. "Behutsam mit ihm sprechen. Lichter langsam raufregeln. Nur zart berühren."
Sie aber nahmen ihn mit ins Kino, flogen mit ihm um die Welt, Praxen, MRT-Röhren. Und sie gaben ihm Medikamente, die das Gehirn anregten. Die Tiere im Labor vergaßen nichts. Auch Kai hat nie vergessen, an welchem Tag, in welchem Zimmer er vor Jahren das Salatblatt aß, das Kamila ihm aufgezwungen hatte. Jeder Schmerz brennt sich ein und nährt Angst. Rückzug als einziger Schutz.
Henry weinte, als er die Erkenntnis hatte. Für Kai war es zu spät, dachte er. Aber sie forschten weiter und fanden heraus, dass sich Autismus nicht nur vermeiden, sondern mildern lässt. Dafür sollte ein autistisches Kind in einer vorhersehbaren Welt aufwachsen. "Keine Computer, kein Fernsehen, keine knalligen Farben, keine Überraschungen." Wenn bis zu Beginn der Schulzeit Eindrücke gedämpft wurden, sagt Henry, ist die größte Gefahr gebannt: dass Teile des Gehirns in eine dauerhafte Überaktion versetzt werden. Neue Studien stützen Markrams Theorie. Professoren aus Toronto und Cleveland beobachteten autistische Kinder und stellten fest, dass deren Hirne in Ruhe 42 Prozent mehr Informationen verarbeiten müssen als die normaler Kinder. Sie loben ausdrücklich Markrams Arbeit.
Zuletzt beriet Markram die Macher der Autisten-Doku "Life Animated", der für den Oscar nominiert war. Der Film handelt von einem Kind, dem gegen die alte Lehre seine Rituale gelassen wurden: Disneyfilme schauen. Eines Tages fand sein Vater heraus: Wenn er als Disney-Charakter auftrat, konnte das Kind reden. Sie fanden Kontakt. Er hatte sich in die Welt des Kindes begeben, und so fand es langsam heraus. "Die Leute sagen, Autisten fehlt Empathie", sagt Markram. "Nein, uns fehlt sie. Für sie."
Kai lebt heute noch in Israel, ihm geht es gut. Er arbeitet im Gericht, im Wachschutz. Fachleute haben festgestellt, dass Autisten andere unterbewusst beeinflussen. Wer ihnen begegnet, wird entspannter, sie verändern das Klima in einem Raum. Gerade im Gericht ist dies Gold wert. Kai wird gebraucht. Und für sein Anderssein geliebt.
Wie damals, als er dem Studenten den Autoschlüssel brachte, als der an ihrer Tür klingelte, die Mutter öffnete: "Ist das Ihr Schlüssel? Ihr Sohn hat ihn mir gegeben." - "Was?? Kai!!", rief die Mutter. Fünf Minuten später saßen sie zusammen im Auto. Anat fuhr, der Student, die Tasche auf dem Schoß, schaute auf die Uhr. Er würde es tatsächlich schaffen. "Was würde ich ohne Sie nur machen?", sagte er. - "Danken Sie Kai." - "Er ist wirklich ein besonderer Junge." Die Mutter nickte.